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Kannst du mir sagen, was die Klugheit ist?

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Eine kleine Abhandlung über die Tugend der Klugheit

Im Lukasevangelium gibt es ein Gleichnis, das auf Anhieb gar nicht so leicht zu verstehen ist. Es ist das Gleichnis vom ungerechten Verwalter, dem Jesus – trotz seiner offensichtlichen Veruntreuung – ein Lob ausspricht. Man kann sich einer gewissen Verwunderung nicht entziehen, wie Jesus diesen Verwalter als Beispiel für die Kinder des Lichtes anführen kann, da dieser die Klugheit doch offensichtlich nur für seine Gaunereien eingesetzt hatte. Lobt Jesus aber wirklich die Tugend der Klugheit oder nicht vielleicht etwas anderes?

 

Die Tugend der Klugheit ist unter den moralischen Tugenden am schwersten zu verstehen. Sie ist vielfältigen Missverständnissen ausgesetzt und ihre Behandlung wird heute, wie einer der größten Thomisten des 20. Jh., Garrigou-Lagrange († 1964), bekümmert feststellt, geradezu unterdrückt, selbst von christlichen Denkern.

Es wird also höchste Zeit, die Klugheit wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, um sie wieder an den Platz zu stellen, der ihr aufgrund ihrer Würde zukommt. Ich werde hier also versuchen, mit einigen groben Pinselstrichen, die Tugend der Klugheit zu umreißen, um ein wenig Licht in diese unterschätzte Angelegenheit zu bringen.

Um dies tun zu können, werde ich zunächst darauf eingehen, was die moralischen Tugenden überhaupt sind. Anschließend möchte ich untersuchen, was die Klugheit im Besonderen ausmacht, was ihre genaue Aufgabe und ihr Verhältnis zu den anderen Tugenden ist. Zum Abschluss werde ich ein paar kurze Gedanken anreißen, welchen Nutzen uns eine Betrachtung der Klugheit bringen könnte.

Was ist überhaupt eine Tugend?

Eine Tugend, ganz allgemein gesprochen, ist eine tief sitzende Befähigung des Menschen, eine ganz bestimmte Tätigkeit auf vollkommene Weise auszuführen. Der Mensch hat viele verschiedene Fähigkeiten: Er kann sprechen, denken, rechnen, musizieren, laufen, Gewichte heben usw. Manche Menschen können besser musizieren, als sie laufen können, andere hingegen besser Häuser bauen als Bücher schreiben. Viele Fähigkeiten erwerben wir uns, indem wir in einem Bereich viel üben. Man erwirbt sich dadurch eine Grundhaltung, indem man in einem Bereich viel übt, was dann auch „Habitus“ genannt werden kann. Damit ist gemeint, dass man eine Fähigkeit hat, dass man sich etwas zu eigen gemacht hat.

 

Eine Befähigung wird aber genau dann Tugend genannt, wenn diese Grundhaltung den Menschen befähigt, gute Tätigkeiten auszuführen, bzw. wenn diese Grundhaltung zu guten Ergebnissen führt. Man könnte sich nämlich auch Gewohnheiten aneignen, die zu schlechten Tätigkeiten oder schlechten Endergebnissen führen. Das ist beim Erlernen eines Instruments oder bei der Stimmbildung auch gar nicht so selten. Wenn jemand einen schlechten Lehrer hat, dann lernt er falsche Griffe und Techniken. Der Schüler ist dann nicht in der Lage, die richtigen Töne zu spielen, und wird es später nicht sehr weit bringen. Man spricht dann von Fehlhaltungen oder vom Laster. Letzteres klingt in Bereichen der Musik oder der Künste vielleicht etwas deplatziert, aber im Bereich der Moral ist dies sehr wohl bekannt. Laster sind gewohnheitsmäßige Einstellungen bzw. Grundhaltungen, die zu schlechten Resultaten führen, Tugenden hingegen zu guten.

Es ist wichtig, zu begreifen, dass es nicht nur auf moralischem oder sittlichem Gebiet Tugenden und Laster gibt. Freilich verbindet man diese Begriffe sofort mit dem Moralischen, aber es gibt auch intellektuelle Tugenden bzw. Laster und sogar theologische Tugenden. Intellektuelle Tugenden sind Weisheit, Wissenschaft (theoretisches Wissen), Kunstfertigkeit (Handwerk, Musik), Einsicht, aber auch die Klugheit, während zu den theologischen Tugenden bekanntermaßen Glaube, Hoffnung und Liebe gezählt werden. Man nennt sie intellektuelle Tugenden, weil es bei ihnen darum geht, das Erkenntnisvermögen des Menschen zu vollenden, d. h. gut zu machen. Jemand, der also gut nachdenken und auf irgendeinem Gebiet die Wahrheit leicht herausfinden kann, besitzt dann eine intellektuelle Tugend. Landläufig würde man ihn intelligent nennen, wenn er sich auf einem Gebiet gut auskennt und sich leichttut, Dinge zu erfassen. Heißt das aber, dass intellektuelle Tugenden (Tugenden also, die im Verstand wurzeln) jemanden schon moralisch gut machen?

 

Angenommen, jemand ist ein brillanter Atomphysiker und weiß alles über Strahlung, Wirkung und Möglichkeiten von atomarer Energie. Er besitzt also die intellektuelle Tugend der Wissenschaft. Sagt dies aber etwas darüber aus, wie dieser Wissenschaftler sein Wissen einsetzt? Offensichtlich nicht. Es besagt lediglich, dass er sich in einem bestimmten Gebiet sehr gut auskennt, aber es sagt nichts über sein moralisches Handeln aus. Er könnte sein Wissen also moralisch schlecht einsetzen, indem er für Verbrecher oder Wahnsinnige eine Bombe baut, oder aber er könnte es moralisch gut einsetzen, indem er an einer menschenfreundlichen und dauerhaften Lösung für den Atommüll arbeitet.

Das bedeutet also, dass die intellektuellen Fähigkeiten – wie alle anderen Fähigkeiten auch – einem moralisch guten Gebrauch zugeführt werden müssen. Um dies zu erreichen, braucht es die moralischen Tugenden (oft auch sittliche Tugenden genannt), welchen wir uns als nächstes zuwenden.

Die moralische Tugend

Neben den intellektuellen Tugenden muss es also noch eine Gruppe von Tugenden geben, die die Handlungen des Menschen unter moralischer Rücksicht vollenden. Moralische Tugenden befähigen den Menschen dahingehend, sittlich gute Handlungen vollbringen zu können. Wer die moralische Tugend besitzt, ist in der Lage, sittlich richtig zu handeln. Anders als die intellektuellen Tugenden, die nur das Erkenntnisvermögen des Menschen vollenden, vollenden die moralischen Tugenden das Strebevermögen. Mit anderen Worten: Intellektuelle Tugenden wurzeln im Verstand, moralische Tugenden dagegen im Streben. Zu jeder der beiden Grundkräfte im Menschen – nämlich dem Erkennen und dem Streben – gehört jeweils eine Gruppe von Tugenden, die das jeweilige Vermögen dahingehend vollendet, gute und gelingende Akte zu setzen.

 

Das Streben ist jene Kraft, mit der sich der Mensch auf ein bestimmtes Ziel hinbewegt, während das Erkennen ihn dieses Ziel anvisieren und auch die Mittel zu diesem Ziel finden lässt. Der Mensch agiert und handelt immer um eines Zieles willen, aber er hat – wie jedes andere Lebewesen auch – eine ganz bestimmte Natur. Das heißt, dass er auf eine ganz bestimmte Weise „gebaut“, verfasst bzw. konzipiert ist. Vögel wollen fliegen, Nester bauen und Eier ausbrüten, Fische schwimmen, Biber aber wollen Flüsse stauen und Nachwuchs großziehen. Dieser Natur entsprechend zu leben ist die Erfüllung und das (Letzt-)Ziel eines jeden Lebewesens. Wenn es daran gehindert wird, fühlt es sich nicht wohl, wird krank oder geht gar ein. Auch der Mensch hat ein entsprechendes Ziel, das er zu verwirklichen hat. Dieses Ziel ist sein Glück, nur darin kann er ein erfülltes Leben finden. Um dieses letzten Zieles willen tut der Mensch alles, was er überhaupt tut. Das Glück des Menschen ist jedoch an seine Natur gebunden, was bedeutet, dass es dem Menschen vorgegeben ist, worin und wie er sein Glück findet.

Dieser letzte Punkt ist überaus wichtig: Das Glück des Menschen liegt in der menschlichen Natur, weil die Natur sein Letztziel – d. h. seine Bestimmung – schon vorgegeben hat. Das bedeutet also, dass die menschliche Natur (letztlich natürlich Gott, da der Bauplan von ihm stammt) dem Menschen diktiert, wie er zu leben hat und worin sein erfülltes Leben liegt.

 

Um aber das Ziel zu erkennen, muss man auf das Eigentümliche der menschlichen Natur – das, was den Menschen zum Menschen macht – schauen. Das Besondere am Menschen ist seine Vernunftbegabtheit, denn durch diese hebt sich der Mensch von allen anderen Lebewesen ab. Sein Glück wird also in einer Betätigung dieser speziellen Fähigkeit liegen, mit anderen Worten: Das eigentlich menschliche Leben ist ein Leben, das von der rechten Vernunft geleitet ist.

Der Mensch ist ein leiblich-geistiges Wesen. Da er also eine leibliche Seite hat, ist sein Streben auch irgendwie leiblich, d. h. sinnlich konzipiert. Wenn Menschen etwas anstreben, sind immer auch Emotionen (also Gefühle) mit im Spiel. Wir fühlen uns von liebenswerten Dingen emotional angezogen: Süße Babys wollen wir küssen, schöne und sympathische Menschen ziehen uns an, schmackhaftes Essen und Trinken lacht uns an usw. Umgekehrt stoßen uns hässliche Dinge, wie Sünde, Krankheit, Krieg, Elend usw., emotional ab. Diese emotionalen Reaktionen – man spricht auch vom sinnlichen Streben – sind prinzipiell gut und gottgewollt, da es die Art und Weise ist, wie Menschen in einer sinnlich wahrnehmbaren Welt nach Dingen streben.

Doch auch die Emotionen bedürfen einer Regelung, die dann geschieht, wenn man die moralischen Tugenden besitzt. Sie befähigen den Menschen, die richtigen emotionalen Einstellungen gegenüber Situationen, Menschen, Handlungen usw. einzunehmen. Das mag etwas überraschen, weil man mit Tugend oft etwas rein Geistiges in Verbindung bringt, das nichts mit Gefühlen zu tun hat. Doch dies beruht auf einer Verwechslung von (geistigem) Willen und sinnlichem Streben. Man darf nicht vergessen, dass der Mensch auch ein Sinnenwesen ist. Sein sinnliches Leben muss daher auf irgendeine Weise ausgerichtet und vollendet werden.

 

Die moralischen Tugenden regulieren das Gefühlsleben. Die Frage jedoch, wie viele moralische Tugenden es überhaupt gibt, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Jedenfalls gibt es keine vollständige Auflistung, denn gefühlsmäßige Einstellungen hängen auch von Kulturkreis, Zeit und Person ab. Thomas von Aquin zählt z. B. elf Tugenden auf, unter denen auch Tugenden wie Weitherzigkeit, Ehrliebe oder Humor zu finden sind. Diese Aufzählung ist aber nicht als vollständige Auflistung zu verstehen. Man kann jedoch alle moralischen Tugenden unter die vier sogenannten Kardinaltugenden einordnen. Die vier Kardinaltugenden lauten: Gerechtigkeit, Maßhaltung, Tapferkeit und – die letzte ist ein Spezialfall – Klugheit. Diese vier Tugenden regeln alle menschlichen Handlungen in moralischer Hinsicht. Sie machen den Menschen also moralisch gut, im Gegensatz zu den intellektuellen Tugenden, die lediglich das Produkt gut machen. Die Gerechtigkeit umfasst alle Handlungen in Bezug auf das Wohl unserer Mitmenschen, die Maßhaltung regelt unsere Einstellungen bezüglich unserer eigenen Lust (Essen, Sexualität, Vergnügungen usw.) und die Tapferkeit regelt unsere Einstellung bezüglich unserer Unlust, also hinsichtlich unangenehmer Emotionen (Pflichtbewusstsein, Treue angesichts von Schwierigkeiten, Überwinden von Furcht angesichts von Gefahren usw.).

Den tugendhaften Menschen zeichnet aus, dass er in jeder Situation die richtige emotionale Einstellung hat. Die Gefühlswelt eines Gerechten, Tapferen oder Maßvollen ist immer der Situation angemessen. Bei einem Fest kann der Maßvolle fröhlich und ausgelassen sein, bei einem Begräbnis hingegen zurückhaltend und einfühlsam. Der tapfere Feuerwehrmann ist nicht jemand, der nie Furcht verspürt, sondern der die richtige Furcht verspürt. Er ist weder verwegen noch feige, sondern eben tapfer, indem er seine Furcht überwindet und in das brennende Haus geht. Man sieht also, dass die moralische Tugend immer zwischen zwei Extremen liegt. Daher kommt auch das Sprichwort: Die Tugend liegt in der Mitte. Das heißt nicht, dass die Tugend etwas Mittelmäßiges sei, passend für Biedermänner und Kleinbürger, sondern nur, dass sie zwischen zwei Extremen liegt, wovon jedes ein Laster ist. Bei der Maßhaltung wäre z. B. das eine Extrem die Genusssucht, das andere eine gewisse Griesgrämigkeit oder Geiz, wenn sich z. B. jemand nie ein Gläschen Wein gönnen kann oder nicht fähig ist, bei gegebenem Anlass einmal auf den Putz zu hauen – angepasst an seinen Stand natürlich.

Doch auch die Klugheit ist eine der Kardinaltugenden. Heißt das, dass auch sie in der Mitte liegt? Funktioniert das mit den beiden entgegengesetzten Lastern auch bei der Klugheit? Ist sie überhaupt eine moralische Tugend?

Die Klugheit – wichtig, aber schwer zu fassen

Ein Grund, warum die Klugheit so schwer zu verstehen ist und warum auch unter gebildeten und guten Philosophen nicht selten falsche Ansichten über diese Tugend vertreten werden, mag wohl darin liegen, dass die Klugheit ihren Sitz im Erkenntnisvermögen hat und daher vom Wesen her eine intellektuelle Tugend ist, obwohl sie auch zu den moralischen Tugenden gerechnet wird.

 

Wie der hl. Thomas von Aquin ausführt, nennt man denjenigen klug, der richtig zu überlegen weiß. Klugheit hat also wesentlich mit Überlegung zu tun. Das führt dann aber zu der Frage, was der Kluge überlegt. Thomas meint nämlich mit Überlegung etwas ganz Bestimmtes. Überlegungen stellt man nicht darüber an, wie Thomas weiter ausführt, was von Natur aus festliegt, sondern über das, was von uns abhängt. Damit meint er, dass wir z. B. keinesfalls über mathematische Probleme Überlegungen anstellen, sondern nur über Handlungen, weil die Handlungen, im Gegensatz zu mathematischen Problemen, allein von uns abhängen. Mathematische Lösungen müssen einfach gefunden werden, sie liegen schon von vornherein fest. Wie man jedoch in einer Situation konkret handelt, ist hingegen weder eindeutig noch vorgegeben. Das liegt daran, dass eine Handlungssituation aus vielfältigen Komponenten zusammengesetzt ist. Vor allem die Umstände einer Handlung – d. h. wo die Handlung passiert, wer involviert ist, wann sie passiert usw. – sind im Grunde genommen unendlich vielfältig. Uns ist das vielleicht nicht immer bewusst, aber eine konkrete Handlungssituation ist eigentlich sehr vage und oft schwer einzuordnen. Die Tugend aber, die es dem Menschen ermöglicht, in diesem Gewirr von Undeutlichkeiten die richtigen Überlegungen anzustellen, indem man z. B. nur die relevanten Umstände mit einbezieht, ist die Klugheit.

 

Wir nennen viele Menschen klug, wie den klugen Geschäftsmann, den klugen Politiker oder eben den klugen Verwalter. Doch das ist es nicht, was mit der Tugend der Klugheit gemeint ist. Die wahre Klugheit bezieht sich nicht nur auf einen Teilbereich des menschlichen Lebens, sondern auf das Letztziel schlechthin. Dieser Punkt kann nicht stark genug hervorgehoben werden. Der kluge Geschäftsmann ist nicht klug im vollen Sinn, sondern nur gewieft oder fähig. Klug im eigentlichen und vollen Sinn ist jemand nur dann, wenn er hinsichtlich seines Letztzieles richtig überlegt. Wie oben schon angesprochen, ist das Letztziel des Menschen sein Glück, die Verwirklichung eines vernunftgemäßen Lebens. Klug zu sein heißt also, hinsichtlich seines Letztzieles richtig zu überlegen und die richtigen Mittel zu diesem Ziel zu finden. Thomas betont ausdrücklich, dass die Klugheit nicht das Ziel selbst vorgibt – denn das Glück liegt ja von Natur aus fest –, sondern dass die Klugheit nur über die Mittel zum Ziel verfügt. Die Klugheit befähigt den Menschen dazu, die richtigen Mittel für das Letztziel zu finden. Jetzt wird auch klar, was Jesus am ungerechten Verwalter lobt. Es ist nicht die Tugend der Klugheit, sondern nur sein zielgerichtetes Handeln. Das ist es, was die Kinder des Lichtes von den Weltkindern zu lernen haben: die richtigen Mittel zu ihrem Ziel in Gott zu finden. Doch dies ist alles andere als leicht.

Es ist nämlich einerlei, zu wissen, dass das Glück in der Gerechtigkeit, Maßhaltung und Tapferkeit besteht, jedoch etwas anderes, was im Konkreten eine gerechte, maßvolle oder tapfere Handlung ist. Genau hier setzt die Klugheit ein. Sie lässt den Menschen erkennen, was hier und jetzt, im ganz Konkreten, die moralisch richtige Handlung ist. Genau dies sind die sog. Mittel zum Letztziel. Eines ist nämlich klar: Nur die konkret vollzogene, moralisch richtige Handlung bringt uns unserem Letztziel näher. Allgemeines Wissen macht uns weder gut noch schlecht, sondern nur die konkrete Tat. Das „Mittel“ zum Letztziel, über das die Klugheit verfügt, sind daher die ganz konkreten Taten. Mit anderen Worten: Die Klugheit ermöglicht es dem Menschen, konkrete Entscheidungen zu konkreten Taten zu fällen, die uns dann zu dem Ziel hinführen.

 

Zusammenfassend lässt sich also von der Klugheit sagen, dass sie den Menschen befähigt, hinsichtlich seines Letztzieles richtig zu überlegen und die richtigen Entscheidungen zu treffen, die zu tatsächlich ausgeführten Handlungen führen. Niemand kann nämlich klug sein, der nur weiß, was hier und jetzt

tun wäre, es aber nicht tut. Wenn er wirklich das Ziel erreichen will, muss er auch tun, was er als richtig erkannt hat, ansonsten kann er nicht klug genannt werden.

Zum Abschluss möchte ich noch kurz auf das Verhältnis zu den anderen moralischen Tugenden eingehen. Wir haben gesagt, dass der tugendhafte Mensch immer die richtigen emotionalen Einstellungen hat und daher in den verschiedenen Situationen richtig reagiert. Doch die Frage ist, woher der Maßstab für die moralischen Tugenden stammt, mit anderen Worten: Wer oder was bestimmt, wo die Mitte zwischen den zwei Extremen liegt?

Aufmerksame Leser werden ahnen, was als Antwort kommt: Es ist die Klugheit, die den Maßstab für die moralischen Tugenden liefert. Sie gibt den anderen moralischen Tugenden die Mitte vor, indem sie bestimmt, was hier und jetzt das richtige Maß an Emotionalität oder was die rechte Mitte innerhalb von Gütern ist. Um das herauszufinden, blickt sie bildlich gesprochen auf die konkrete Situation, um dann zu entscheiden, was die richtige Handlungsweise ist. Die Klugheit ist daher in allen anderen Tugenden lebendig, ja wie ein roter Faden in alle moralisch guten Handlungen eingewoben. Nicht jede moralisch gute Handlung ist tapfer oder gerecht, aber absolut jede moralisch gute Handlung ist klug. Die Klugheit ist daher nicht den anderen moralischen Tugenden gleichgestellt, sondern sie ist deren unmittelbare Ursache. Daher nennt Thomas von Aquin sie auch genitrix virtutum, d. h. „Mutter“ oder „Hervorbringerin“ aller moralischen Tugenden.

 

Da die Klugheit vom Wesen eine intellektuelle Tugend ist, liegt sie selber in keiner Mitte von zwei Extremen. Wie sollten die Extreme auch lauten? Unklugheit auf der einen Seite, aber was auf der anderen? Übervorsichtigkeit? Das passt nicht wirklich, denn auch die Übervorsichtigkeit ist eine Art von Unklugheit. Der Maßstab für die Klugheit ist die Wirklichkeit selber, daran richtet sie sich aus. Der Kluge zeichnet sich also auch besonders durch Realitätssinn aus. Doch die Klugheit selbst ist unmittelbarer Maßstab für die anderen Kardinaltugenden.

Was kann uns eine Betrachtung der Klugheit praktisch bringen?

Wenn die Klugheit also allen anderen moralischen Tugenden vorangestellt ist und sie in jede einzelne Tugend wesentlich eingewoben ist, kann es doch nur gewinnbringend sein, seinen Blick auf die Notwendigkeit und Würde dieser Tugend zu richten. Eine Betrachtung der Klugheit hilft uns, bewusster auf unser Letztziel zu blicken und alles unter diesem Aspekt zu sehen. Man stellt sich bewusster die Frage: Wie erreiche ich mein Glück? Wenn man erkennen darf, dass in der Moralität unser Glück und unsere Verwirklichung als Mensch liegen, dann hilft es uns auch, den Blick vom „Opfercharakter“ der Moral abzuwenden. Dann heißt es nicht mehr, dass ich dauernd irgendwo mit zusammengebissenen Zähnen durch muss, sondern dass ich dies und jenes tun „darf“. Derartige Gedanken sind eine Quelle der Motivation, weil sie Freude verleihen. Das ist auch eines der Geheimnisse der Heiligen, die in heroischem Maß die moralischen Tugenden besaßen. Sie erkannten, dass sie mit ihren moralisch guten Handlungen auch ihr eigenes gottgewolltes Glück finden, und das verlieh ihnen in all den Schwierigkeiten trotz allem eine gewisse Freude und Erfüllung. Diese Einstellung lässt auch Sokrates durch den Mund Platons ausrufen, dass es besser sei, Unrecht zu leiden, als Unrecht zu tun. Auch wenn man vielleicht auf Erden in Widrigkeiten nicht sein vollendetes Glück finden kann, steht eines noch viel mehr fest: Ohne Moral ist es unmöglich, glücklich zu werden.

 

Ich darf jedoch nicht schließen, ohne darauf hinzuweisen, dass es letztlich noch unmöglicher ist, vollendet glücklich zu werden, ohne die christliche Klugheit zu besitzen. Ich habe hier lediglich über die natürliche Klugheit gesprochen, ohne darauf hinzuweisen, dass uns in Wirklichkeit vor allem die christliche Klugheit nötig ist, um unser eigentliches Glück zu finden. Mit der natürlichen Klugheit lässt sich nur ein Stück natürlicher Glückseligkeit gewinnen, das schnell durch äußere Umstände vereitelt werden kann. Wir sind als Menschen jedoch auf ein übernatürliches Ziel in Gott hin berufen. Unser Letztziel ist die Anschauung Gottes und die christliche Klugheit lässt uns die richtigen Handlungen finden, die zu genau diesem Ziel führen. Unter diesem Aspekt ist die natürliche Moral zwar die Voraussetzung für das übernatürliche Glück, aber noch nicht das Glück selber. Die von der christlichen Klugheit geleiteten Handlungen mögen sich zwar dem äußeren Schein nach nicht wesentlich von denen der natürlichen Klugheit unterscheiden, doch das Innenleben ist ein gänzlich anderes: Man handelt dann um Gottes willen, um Ihm allein zu gefallen und um seinen Willen zu tun. Das übernatürliche Leben baut gewissermaßen auf dem natürlichen Leben auf, aber es geht weit darüber hinaus. Eine Betrachtung und Wertschätzung der Klugheit kann uns also helfen, einen positiven und freudigen Blick auf unser Letztziel in Gott zu richten, das dann umso sicherer erreicht wird, desto mehr unsere Kräfte gebündelt darauf ausgerichtet werden.