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Das katholische Kirchengebäude
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Abbild des himmlischen Jerusalems
Nachdem Kaiser Konstantin im Jahre 313 durch das Toleranzdelikt von Mailand das Christentum als Religion anerkannt hatte, konnte man endlich in aller Öffentlichkeit christliche Kirchen bauen. Von Anfang an verstand man das christliche Kirchengebäude als Abbild einer Himmelsstadt (vgl. die Epistel des Kirchweihfestes). Die christliche Himmelstadt aber ist das Himmlische Jerusalem und maßgebliche Quellen hierfür sind die Geheime Offenbarung des Apostels Johannes (Apokalypse) sowie einige Stellen aus dem Buch Tobit. Die Grundtatsache, dass das christliche Kirchengebäude das Himmlische Jerusalem bedeutet, (und im gewissen Sinne auch ist) kann man für das 4. und 5. Jahrhundert aus Schriftquellen mannigfacher Art, vor allem der Kirchenväter, ausführlich belegen. Die älteste Quelle dafür dürfte die ungefähr 314 in Tyrus gehaltene eusebianische Kirchweihrede sein. In ihr wird das Kirchengebäude als „Stadt des Herrn der Heerscharen“ bezeichnet. Baläus († 450), ein syrischer Dichter, sagt über das Kirchengebäude: „Es ist kein gewöhnliches Haus, sondern der Himmel hier auf Erden, weil der Herr darin wohnt.“ Im 6. Jahrhundert hat sich im Westen der basilikale Langhauskirchenbau (in Form des lateinischen Kreuzes), im Osten die Kreuzkuppelkirche (in Form des griechischen Kreuzes) durchgesetzt.
In der Ostkirche ging man mit der Auslegung der Symbolik des Kirchengebäudes noch weiter als im Westen. Die vier Teile des Kircheninnern symbolisieren die vier Weltrichtungen. Das Innere der Kirche ist das Weltall. Der Altar ist das Paradies, das nach Osten verlegt wurde. Im Westen liegt das Gebiet der Finsternis und des Todes. Die Mitte der Kirche ist die Erde. Diese ist nach antiker Vorstellung viereckig und wird von vier Wänden begrenzt und von einer Kuppel, dem Himmel, umwölbt. Die Malereien im Innern stellen die Phasen der Entwicklung der irdischen Welt dar. Über der Erde schwebt die Gestalt des Schöpfers (der Pantokrator in der Kuppel). Die Gestalten der Urväter und der Propheten erinnern an die Verheißung des Erlösers im Alten Testament, die Geschehnisse in den Evangelien und der Apostelgeschichte schildern den neuen Bund. Apostel, Märtyrer, Heilige und Bischöfe an den Wänden und Pfeilern werden als Stützen der Kirche Gottes auf Erden gesehen: „Den Sieger will ich zur Säule im Tempel meines Gottes machen“ (Offb 3,12). So ist das byzantinische Kirchengebäude nicht nur Abbild des Himmels, sondern des gesamten Kosmos.
Im Westen hielt man sich dagegen strenger an das Bild der Himmelsstadt. Der römischantike Städtebau lieferte auch das Vorbild für die Gestaltung der Architektur des Gotteshauses. Am Grundriss des Palastes Diokletians in Spalato (300 n. Chr.) kann man dies sehr deutlich erkennen. Eine mit Wachtürmen bewehrte Stadtmauer umfriedet den städtischen Bezirk, dessen Grundriss sich um ein beherrschendes Straßenkreuz ordnet. Vom Haupttor führt eine lange Arkadenstraße zum Audienzgebäude des Herrschers, der seinen Platz in der Apsis einnimmt. Die große Querstraße, ebenfalls mit Arkaden gegliedert, verbindet die beiden Seitentore der Anlage miteinander. Ähnlich ist der Bau der großen gotischen Kathedralen zu verstehen: Als turmbewehrte Stadt mit Engeln, Propheten und Heiligen, welche die Tore bewachen, mit einer langen Arkadenstraße, deren offener Himmel durch das Kreuzrippengewölbe ersetzt wird, das meist auch blau bemalt und mit vielen goldenen Sternen verziert ist, die von einer Querstraße in der Vierung durchkreuzt, auf den Altarraum hinführt. Wie bereits erwähnt, wurde die Kirche von Anfang an als Himmlisches Jerusalem gedeutet. Doch erst in der Epoche der Gotik fand man die Möglichkeit, die Vision des Apostels Johannes so in Stein zu errichten, dass die Symbolik zur höchsten Vollkommenheit wie in der klassisch französischen Kathedrale gesteigert wurde. Nach der Vision des Apostels Johannes ist diese Stadt schwebend und nicht aus festen Mauern, sondern aus selbstleuchtenden Edelsteinen gebaut. Die großen bunten Glasfester mit den Farben Rubinrot, Saphirblau, Smaragdgrün und Gold als Farbe des Himmels symbolisieren die Edelsteinwände: „Die Pforten Jerusalems werden von Saphir und Smaragd gebaut werden und aus Edelsteinen ringsum ihre Mauern“ (Tob 13,17). Die Apostel, die meistens an den Mittelschiffpfeilern angebracht sind, symbolisieren ebenfalls wie im Osten die Stützen der Kirche Gottes auf Erden: „Die Mauer der Stadt hatte zwölf Grundsteine (Pfeiler, Apostelkerzen), auf diesen standen die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes“ (Offb 21,14). Der Mittelgang ist die Prachtstraße, die zur Audienzhalle (Chor und Altar) führt: „Mit weißem und reinem Marmor werden all ihre Straßen gepflastert sein“ (Tob 13,22). Der Hochalter selbst ist der Thron Christi: „Und siehe im Himmel stand ein Thron“ (Offb 4,2).
Die Westfassade, der Haupteingang fast aller Kathedralen und größeren Kirchen gibt den Eindruck eines großen Stadttors wieder (vgl. die Doppelturmfassade in Paris, Reims, Köln und Regensburg) und steht unter dem Leitgedanken der Porta Coeli, der „Pforte des Himmels“: „Und ich sah eine offene Tür im Himmel“ (Offb 4,1). An der Porta Coeli erschienen zwei Zentralthemen: Christus und Maria. Christus spricht: „Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, der wird gerettet werden“ (Joh 10,9). Da Maria Jesus geboren hatte und so die Erlösung ermöglichte, hat sie die durch Eva verschlossene Pforte des Himmels wieder geöffnet. In diesem Sinn ist auch Maria eine Pforte des Himmels (vgl. das Hauptportal des Domes zu Speyer). Der Gedanke an das Himmlische Jerusalem klingt nochmals in den riesigen Rundfenstern an, die über den Portalen schweben – neben ihrer Symbolbedeutung als „Sonne“ (Christus) und „Rose“ (Maria; vgl. Notre Dame in Paris). Nach zeitgenössischen Kommentaren zur Apokalypse wird das Himmlische Jerusalem als Rundstadt begriffen. Hier klingen orientalische Vorstellungen von der Rundstadt an, wie sie im 8. Jahrhundert in Bagdad verwirklicht war.
Trotz der Fülle des Dargestellten zeichnet sich eine Grundanordnung ab, die zwar variiert werden kann, aber doch ihre allgemeine Gültigkeit besitzt: Die westliche Eingangseite, das Hauptportal, steht meistens unter dem Leitgedanken des Jüngsten Gerichts und der Seelenwägung, also die Entscheidung zwischen Gut und Böse. Die beiden Seitenportale an der Nord- und Südseite stehen in typologischer Beziehung zueinander und vertreten das Alte und Neue Testament. Das Nordportal enthält Skulpturen der alttestamentlichen Propheten, Sibyllen und Patriarchen, die um Maria gruppiert sind, welche als Gottesgebärerin die Brücke zum Neuen Testament schlägt. Das Rosenfenster darüber zeigt meistens einen ähnlich zusammengestellten Zyklus. Das Südportal wird von Christus beherrscht, der umgeben ist von den Aposteln, Martyrern und Bekennern. Das Sonnenfenster darüber zeigt gewöhnlich Christus als Weltenbeherrscher (Majestas Domini). Kannte die Romanik (ca. 1000–1250) noch keine von der Welt des Heiligen scharf getrennte Sphäre des Irdischen und Dämonischen, so werden in der Epoche der Gotik (ca. 1250–1500) alle Dämonendarstellungen aus der Kirche nach außen verbannt: „Da ist nichts Verbannungswürdiges mehr“ (Offb 22,3). Denn in den Himmel (die Kirche) kann nichts Unreines eingehen. Die hässlichen Teufel und die Dämonen mit ihren Fratzen werden in die luftige Höhe der Türme als Wasserspeier verbannt. Da es im Himmel auch keinen Tod gibt, werden keine Krypten mehr gebaut. Im Himmel kann es keine dunkle Gruft geben. Dies würde auch dem mystisch, lichtdurchfluteten Raum widersprechen. Die Symbolik des Kirchengebäudes war im Mittelalter nicht nur Gelehrten und Theologen vorbehalten. Dem mittelalterlichen Menschen war es völlig klar, dass er das Himmlische Jerusalem betrat. In der christlichen Frühzeit und des Mittelalters waren die Menschen mit Symbolen mehr vertraut als wir heute. Im Übrigen dürfen wir uns die romanischen und gotischen Kathedralen nicht so vorstellen, wie wir sie heute sehen: als riesiges graues Steinmeer. Fast alle Bauteile waren farbig bemalt und verziert, teilweise außen, vor allem aber innen. Rot, Blau, Grün und Gold bestimmten die Farbgebung in den mittelalterlichen Kirchen. Am besten ist dies heute noch in der Oberkirche San Francesco in Assisi zu sehen, die um 1300 von Giotto ausgemalt wurde, sowie in der Oberkirche der 1248 geweihten Sainte Chapelle in Paris.
Im Laufe der Jahrhunderte gab es immer leichte Akzentverschiebungen der Bedeutung. So sah man in der Romanik das Kirchengebäude eher als Himmelsburg und Festung (innen etwas düster), in der Gotik wieder mehr als Himmelsstadt (geheimnisvoll lichtdurchflutet) und im Barock/Rokoko (ca. 1600–1770) sowohl als Himmelsstadt als auch als glanzvollen Thron- und Empfangssaal Gottes. Wenn man heute die modernen kahlen Betonkirchen sieht, so sieht man, dass vom Himmlischen Jerusalem nichts mehr geblieben ist. Das Bewusstsein dafür, was eine Kirche eigentlich ist, ist vielerorts verloren gegangen. Die Kirche ist weder Museum noch bloßer Versammlungsraum, sondern „Haus Gottes“ und „Pforte des Himmels“ (Introitus des Kirchweihfestes).