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Der Freiheitskampf des irischen Volkes und die Rolle der katholischen Kirche (Teil 2)
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Irland kennt man von romantischen Bildern mit grünen Wiesen und dramatischen Steilküsten. Auf viele Menschen hat die unberührte Natur und die freundliche Bevölkerung eine faszinierende Wirkung. Aber nur wenige kennen die tragische Geschichte dieser leidgeprüften Nation. Das katholische Irland hatte jahrhundertelang unter der Knechtschaft des protestantischen Großbritannien zu leiden. Hier soll nun versucht werden, diese abwechslungsreiche Geschichte darzustellen.
Die große Hungersnot
Eine von O’Connell zur Aufhebung der Union von Großbritannien und Irland gegründete Partei scheiterte am Widerstand der irischen Bischöfe und letztendlich auch an der Great Famine, der großen Hungersnot, die wie nie zuvor und niemals danach im ohnehin verelendeten Irland wütete. Einige Beispiele, wie die katholische Unterschicht leben musste, seien hier aufgeführt: In einem Bezirk in der Grafschaft Donegal (die nordwestlichste aller irischen Grafschaften) befanden sich im Jahre 1837 im Besitz von über 8000 Katholiken nur 10 Betten, 93 Stühle und 234 Schemel. Eine Erhebung der Lebensumstände von 1841 stellte fest, dass in Westirland 40 Prozent, in manchen Gegenden sogar 60 Prozent der Häuser nur einräumige, fensterlose Lehmhütten waren. Geschlafen wurde auf Strohhaufen oder manchmal sogar Grasballen. Es hatte in diesem Jahrhundert auch einen massiven Bevölkerungszuwachs gegeben. Zählte man 1821 fast 7 Millionen Einwohner, so stieg die Zahl bis 1831 auf 7,8 Millionen und erreichte 1841 mit 8,1 Millionen Einwohnern ihren Höhepunkt. In den 1840er-Jahren lebten 70 Prozent aller Iren von der Landwirtschaft. Es wurden Getreide und Kartoffeln angebaut und Viehzucht betrieben, wobei Getreide und Vieh zur Bezahlung der Pacht dienten und die Kartoffel das Grundnahrungsmittel schlechthin in Irland war. Viele Menschen aßen fast nichts außer Kartoffeln. Schon 1826 warnte der Dubliner Arzt Dominic Corrigan, „… dass uns Seuche und Krankheit von nie dagewesenen Ausmaßen heimsuchen werden, wenn die Bevölkerung nicht mit alternativen Lebensmitteln zur Kartoffel versorgt wird, denn früher oder später wird es zu einer Seuche kommen“.1 Ein weiteres Problem war die Parzellierung des Landes. Eine 1845 durch die Regierung Peel eingesetzte Kommission zur Untersuchung der Besiedlung und Landverteilung schätzte 326.000 Landparzellen als zu klein ein, um eine fünfköpfige Familie ernähren zu können.
1842 kam es in den USA zu ersten Ernteausfällen durch eine bis dato unbekannte Krankheit. Ausgelöst wurde diese „Kartoffelfäule“ (englisch: blight) durch den Pilz Phytophthora infestans, der bewirkt, dass die Knollen verfaulen. Im September 1845 konnte man in Irland anhand von Blattverfärbungen erkennen, dass auch die dortige Ernte befallen sein würde, doch hoffte man, dies würde nur einen kleinen Teil betreffen. In diesem Jahr blieb knapp ein Drittel der Ernte aus, was noch nicht allzu dramatisch war. Im nächsten Jahr trat der Pilz wieder auf und diesmal vernichtete er einen Großteil der Ernte. Zwar kehrte der Pilz 1847 nicht zurück, aber im Jahr zuvor hatte es wegen des Befalls nur eine geringe Aussaat gegeben, sodass auch diese Ernte entsprechend dürftig war. 1848 fiel die Ernte aufgrund der schlechten Vorjahre und eines erneuten Pilzbefalls so gut wie vollständig aus. Die Infektion schwächte sich 1849 ab und war 1850 praktisch verschwunden. Die britische Regierung reagierte im November 1845 mit dem Kauf von amerikanischem Maismehl und der Kontrolle der Nahrungsmittelpreise. Aber da ja fast 90 Prozent der damaligen Bevölkerung in ärmlichen Verhältnissen lebten, konnten sich diese Menschen nicht einmal das verbilligte Mais mehl leisten. Deshalb ließ die Regierung für erwerbslose Arme Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einrichten, wie Straßenbau, Trockenlegen von Sümpfen usw. Als der britische Ministerpräsident Peel 1846 die Corn Laws („Korngesetze“), mit denen durch hohe Einfuhrzölle und Einfuhrverbote auf Getreide die einheimische Landwirtschaft geschützt werden sollte, aufhob, verlor er die Unterstützung seiner Partei. Dadurch wollte er der hungernden irischen Bevölkerung schnelle und billige Hilfe zukommen lassen. Es gab auch Stimmen in der britischen Politik, die die Hungersnot als göttliche Strafe für die abergläubischen irischen Katholiken interpretierten. Andere wiederum, wie der Staatssekretär im Finanzministerium Charles Edward Trevelyan waren der Ansicht, dass sich das Missverhältnis von Bevölkerung und Nahrungsmittelangebot durch Rückgang der Bevölkerung einpendeln würde. Wie verlogen – waren es doch die Briten, welche die Iren von ihrem fruchtbaren Land vertrieben und sie gezwungen hatten, im unfruchtbaren Teil der Insel zu leben! Als die britische Regierung sogar ein Lebensmittelhilfsprogramm der Amerikaner nur zum Teil annahm und dies an gewisse Bedingungen knüpfte, wuchs der internationale Druck auf die Regierung Russell, was diese dann zu einem stärkeren Eingreifen bewegte. So wurden mit dem Soup Kitchens Act vom Februar 1847 staatlich unterhaltene Suppenküchen geschaffen, wodurch 3 Millionen Menschen ernährt werden konnten. Allerdings wurden diese Suppenküchen Ende des Jahres aufgrund der (falschen) Prognose eines Abflauens der Seuche wieder geschlossen. Es gab auch protestantische Suppenküchen, welche jedem Hungernden eine warme Mahlzeit am Tag gewährten, sofern er Protestant wurde. Es kam damals in Irland die abfällige Bezeichnung Soup-taker für diese Menschen auf, die ihren Glauben für eine warme Mahlzeit verrieten (was stark an Esaus Linsengericht aus dem Alten Testament erinnert). Insgesamt kostete die große Hungersnot ca. 1 Million Menschen das Leben, 1,5 Millionen Iren verließen ihre Heimat und emigrierten nach England, Schottland, den USA, nach Kanada oder Australien. Dieser Aderlass veränderte das Angesicht Irlands und entvölkerte ganze Landstriche, grub sich tief in das irische kollektive Gedächtnis ein und verschlechterte das Verhältnis der Iren zu Großbritannien abermals in großem Ausmaß.
Die Devotional Revolution
Das Massenelend, die schrecklichen Ereignisse während der großen Hungersnot und der drohende Verlust von Teilen der eigenen Kultur und Identität durch das Aussterben der gälischen Sprache hatten eine Untergangsstimmung unter den katholischen Massen heraufbeschworen, in der die Hungersnot als Geißel des Himmels gedeutet wurde. Die sog. „Katholikenemanzipation“ war für sie faktisch ohne Auswirkung geblieben. Lediglich die relativ kleine katholische Mittelschicht, bestehend aus Bauern mit ausreichend großen Pachtflächen, Handwerkern, Bürgern in den Städten und natürlich dem Klerus, profitierte davon. Diese Bevölkerungsgruppen bildeten die Basis, von der eine bis etwa 1870 dauernde machtvolle Erneuerung der katholischen Kirche in Irland ausging, die Devotional Revolution. Der Episkopat unter der energischen Führung von Kardinal Paul Cullen hielt 1850 in Thurles eine Bischofssynode ab, die erste auf irischem Boden seit dem Wüten Heinrichs VIII. Hier leitete Cullen eine Entwicklung ein, in deren Verlauf die irische Kirche mit ihrer bisher eher schwachen, uneinigen und auf Eigenständigkeit bedachten Führung hierarchisch straffer organisiert und stärker auf Rom hin ausgerichtet wurde. Der Bau von Kirchen, die stark steigende Zahl von Priestern und Ordensleuten, die Einführung neuer Andachtsformen und die Kontrolle über das Erziehungswesen führten zu einem Aufblühen der Frömmigkeit. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die nach der Great Famine verschobene Bevölkerungsrelation zu gunsten der kirchentragenden Mittelschicht, die weiterhin extrem hohe Auswanderungsrate in der Unterschicht und Erfolge bei der Bekämpfung der weitverbreiteten Trunksucht. Besuchten vor der großen Hungersnot nur etwa ein Drittel der Katholiken die hl. Messe, so erhöhte sich dieser Anteil 50 Jahre später auf über 90 Prozent! Diese Renaissance des Katholizismus war so stark, dass die Konfession für die Iren zu einem identitätsstiftenden Merkmal werden konnte, zumal man sich dadurch auch besser von den protestantischen Briten abgrenzen konnte.
Auch zwei Jahrzehnte nach der Hungersnot hatte sich an den Besitzverhältnissen in Irland wenig geändert. Reiche protestantisch englische Grundbesitzer verpachteten ihr Land an verarmte katholische Iren, auch die Vertreibungen, wenn die Pacht nicht mehr entrichtet werden konnte, hielten an. In den 1860er-Jahren wurden die Geheimbünde wieder aktiv, auf irischer Seite waren dies v. a. die berüchtigten Fenians, die auch vor Mordanschlägen an Repräsentanten der englischen Oberschicht nicht zurückschreckten. Ihre ideologische, pseudoreligiöse Grundlage war eine mystische Verklärung Irlands, was zwar viele ansprach, aber für konkrete politische Maßnahmen wenig taugte. Mäßigend wirkte auch der Einfluss der Kirchenführung, der es gelang, die Ausmaße dieses religiöse Züge tragenden Nationalismus größtenteils einzudämmen. Allerdings waren sich die Bischöfe in ihrer Beurteilung und Behandlung der Fenians nicht einig. Kardinal Cullen verurteilte, trotz seiner Ablehnung alles Englischen, die Fenians auf das Schärfste, während Erzbischof McHale, in dessen Kirchenprovinz Tuam die schlimmsten sozialen Zustände herrschten, ihnen ein gewisses Verständnis entgegenbrachte. Schließlich verhängte Papst Pius IX. auf Betreiben Cullens am 12. Januar 1870 gegen sie den Kirchenbann. Der Uneinigkeit der beiden kirchlichen Würdenträger lag ein unterschiedliches Verständnis von Nationalismus zugrunde. Für McHale war die nationale Sache untrennbar mit der katholischen verknüpft, wohingegen Cullen den Klerus aus politischen Konflikten herauszuhalten trachtete, zumal dann, wenn darüber kein Konsens in der katholischen Bevölkerung bestand.
Die Lage der Katholiken in Nordirland
In sechs der neun Grafschaften Ulsters, nämlich Londonderry, Antrim, Armagh, Fermanagh, Tyrone und Down, waren die Katholiken größtenteils in der Minderheit. In Belfast wurde erst 1784 die erste katholische Kirche geweiht. Seit 1835 fanden in diesen sechs Grafschaften immer wieder konfessionell motivierte Krawalle und Gewalttaten gegen die Minderheit statt, zu denen wesentlich der Orange Order beitrug. Einen Höhepunkt erreichten sie in den Septemberunruhen von 1886, in deren Verlauf vier Menschen ums Leben kamen, 371 Polizisten verletzt wurden, großer Sachschaden an katholischen Kirchen angerichtet wurde und es zu 442 Festnahmen kam. Dass solchen Angriffen auf Katholiken nicht soziale oder wirtschaftliche Motive, sondern blanker Hass auf die Angehörigen der anderen Konfession zugrunde lag, zeigte sich auch exemplarisch an den Steinwürfen von Mitgliedern des Orange Order auf die Eisenbahnwagen der katholischen Bischöfe, die 1873 von der Einweihung der St. Patricks-Kathedrale in Armagh in den Süden zurückreisten. Im Frühjahr 1900 hatten Protestanten auf katholische Ausflügler geschossen (!), woraufhin Katholiken eine presbyterianische Sonntagsschule überfielen, was wiederum dazu führte, dass katholische Werftarbeiter von einer Gruppe Protestanten angegriffen wurden, deren Führer wegen des Angriffs auf eine Fronleichnamsprozession bereits in Haft saßen. Im Juli 1912 wurden in Belfast 8000 Werft- und Industriearbeiter entlassen, einfach nur deshalb, weil sie Katholiken waren! Herz-Jesu-Schwestern aus Lisburn, südwestlich von Belfast, wurden mit einigen ihrer Zöglinge auf einem Ausflug von militanten Protestanten angegriffen. Die Lage verschärfte sich im Sommer so sehr, dass in manchen Gegenden katholische Priester nur unter Polizeischutz ihr Amt ausüben konnten!
Der Osteraufstand
Kaum ein Ereignis hat sich so sehr in das irische Gedächtnis eingebrannt wie der Osteraufstand (Easter Rising) von 1916. Die Irish Republican Brotherhood (IRB), gegründet 1903, und die sozialistische Citizens Army2 schlossen sich unter der Führung von Patrick Pearse und des Sozialisten James Connolly zusammen und planten für den Ostersonntag des Jahres 1916 einen Aufstand in Dublin. Natürlich hatte dies einen symbolischen Hintergrund: Am Fest der Auferstehung des Herrn sollte das geschlagene Irland, indem es sich gegen seinen Feind erhob, ebenfalls glorreich auferstehen. Zu Recht darf vermutet werden, dass dies (die Symbolik) sogar der einzige Grund war. Denn die Erfolgsaussichten, die von vornherein schon als nicht vorhanden eingestuft werden mussten, verschlechterten sich durch die unmittelbar vorangehenden Ereignisse noch dramatisch. Eine Schiffsladung mit deutschen Waffen (20.000 Gewehre und 10 Maschinengewehre), die als Hauptarsenal der Aufständischen gedacht war, wurde von der britischen Marine aufgebracht. In Anbetracht dessen sprach sich ein Teil der Führung der IRB gegen die Durchführung des Aufstandes aus, der harte Kern um Pearse schlug dennoch, einen Tag verspätet, am Ostermontag, dem 24. April 1916 los. Die etwa 1600 Aufständischen besetzten das Hauptpostamt (General Post Office, GPO) und andere strategische Gebäude in Dublin. Pearse proklamierte als Präsident einer provisorischen Regierung die Irische Republik. Die Unabhängigkeitserklärung begann mit dem Satz: „Männer und Frauen Irlands: Im Namen Gottes und der verstorbenen Generationen, von denen es seine alte nationale Tradition erhält, ruft Irland uns durch seine Kinder zu seiner Fahne und greift nach der Freiheit.“ Und sie endete mit: „Wir vertrauen die Sache der Republik Irland dem Schutz Gottes, des Allerhöchsten an, dessen Segen wir für unsere Waffen erbitten, und wir beten, dass niemand, der unserem Ziel dient, es mit Feigheit, Unmenschlichkeit oder Plünderung entehrt.“3
Die zahlenmäßig unterlegenen Rebellen hielten den britischen Streitkräften eine Woche lang stand. Bei den Kämpfen wurden große Teile der Dubliner Innenstadt zerstört, da die Briten auch Artillerie einsetzten, v. a. gegen die im GPO verschanzten Männer. Innerhalb dieser Woche verloren 450 Aufständische ihr Leben, ebenso 116 britische Soldaten und 16 Polizisten. Über 2500 Verwundete wurden auf beiden Seiten gezählt. Auch Zivilisten starben während der Kämpfe. Die Bürger Dublins standen anfangs ganz und gar nicht hinter den Rebellen, befanden sich doch immerhin viele ihrer Väter und Söhne im Krieg.4 Viele betrachteten den Aufstand auch als ein von den Deutschen ein gefädeltes Komplott. Das weitere Vorgehen der britischen Regierung war jedoch ebenso unklug wie unangemessen. Über ganz Irland wurde das Kriegsrecht verhängt. Verhaftungen und Deportationen in Internierungslager nach England folgten in völlig unverhältnismäßiger Zahl und die Soldaten, die schon während der Kampfhandlungen vor offensichtlich willkürlicher Gewaltanwendung nicht zurückschreckten, verhielten sich auch weiterhin so, als ob sie der Gräuelpropaganda ihrer Gegner Glaubwürdigkeit verschaffen wollten. Am unklügsten aber war die Erschießung der Anführer der Erhebung vom 3. bis 12. Mai 1916. Der schwerverwundete Connolly, der dem Tod schon näher war als dem Leben, wurde auf einem Stuhl festgebunden und dann erschossen. Innerhalb dieses Zeitraumes, als 15 der 90 verhängten Todesurteile vollstreckt wurden, schlug die Stimmung der irischen Bevölkerung um und es entwickelte sich eine zunehmende Sympathie für die Männer des 24. April. Was die Rebellen nicht geschafft hatten, hatte die britische Armee durch Grausamkeit und Überreaktion binnen weniger Wochen erreicht. Pearse, mit seinen Mitkämpfern von den Briten zu Märtyrern gemacht, hatte sein Ziel posthum erreicht. Durch ihren Opfertod hatten seine Rebellen die Auferstehung Irlands unwiderruflich in die Wege geleitet.5 Indem der Protestant Roger Casement zum Katholizismus übertrat und der der Kirche fernstehende Katholik Sean MacDiarmanda sich mit der Kirche aussöhnte und somit zwei Mitglieder der Führungsriege des Osteraufstandes vor ihrer Exekution sich unter die ansonsten bekennenden Katholiken einreihten, konnten die Rebellenführer insgesamt sowohl für die radikalen Nationalisten als auch für die Katholiken Irlands zu Märtyrern werden.
Der irische Unabhängigkeitskrieg
Diese Entwicklung führte zur Entstehung einer breiten nationalistischen Bewegung, deren Sammelbecken die 1905 gegründete Partei Sinn Fein (gälisch für „Wir selbst“) wurde. Ihr Vorsitzender, Eamon de Valera, sollte später die irische Politik maßgeblich prägen. Er war einer der Anführer des Osteraufstandes, wurde jedoch nicht hingerichtet, da er in den USA geboren war. Die Kirche war sich anfangs nicht sicher, wie sie zu den Nationalisten bzw. Republikanern6 stehen sollte, doch De Valera, ein praktizierender und frommer Katholik, der in den 1960er-Jahren Erzbischof Lefebvre mehrmals bei der Messe ministrierte, betonte im Wahlkampf 1918 die Verbindung von Katholizismus und Patriotismus, was die Kirchenführung mit stillschweigender Unterstützung Sinn Feins honorierte. Bei der Wahl gelang Sinn Fein ein überwältigender Sieg: Außerhalb der sechs nordöstlichen Grafschaften erhielt die Partei 65 Prozent der Stimmen. Doch die 73 Kandidaten nahmen, wie zuvor angekündigt, ihre Sitze im britischen Unterhaus nicht ein, sondern gründeten im Januar 1919 in Dublin ein eigenes irisches Parlament, den Dail Eireann (gälisch für „Versammlung Irlands“). Am 1. April 1919 wurde De Valera zum Präsidenten gewählt; im August erklärte die britische Regierung den Dail jedoch zur illegalen Organisation. Ein Mann namens Michael Collins, der das Amt des Finanzministers innehatte, vereinigte die Mitglieder der IRB und anderer Gruppen zur IRA, der Irish Republican Army („Irisch Republikanische Armee“). Er selbst hatte ebenfalls zu den Teilnehmern des Osteraufstandes gehört und war einige Zeit in Wales interniert gewesen. Die IRA führte einen Guerillakrieg gegen die britische Besatzungsmacht mit Angriffen auf Polizeistationen und Militärposten. Anfangs diente dies auch zur Beschaffung von Waffen. Die Männer der IRA waren nicht uniformiert, was ihre Bekämpfung erschwerte und in der Gegend, in der sie operierten, die ganze Bevölkerung unter Generalverdacht stellte. Es kam zu Notstandsverordnungen und im Südwesten Ende 1920 sogar zur Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes.
1920 entsandte die britische Regierung zur Unterstützung der Royal Irish Constabulary („Königlich-Irische Gendarmerie“ – RIC) ein paramilitärisches Freiwilligenkorps aus entlassenen Soldaten, die zumeist an den Fronten des 1. Weltkrieges gekämpft hatten. Diese 8000 Mann starke Truppe wurde bald Black&Tans (BT) genannt. Die Soldaten bekamen diesen Spitznamen we gen ihrer zweifarbigen Uniform, die aus einer kaki-farbigen Hose bestand, wie sie die britische Armee trug, und aus einer schwarzen Jacke der RIC, oder umgekehrt. Die zweite Truppe, Auxiliaries genannt, bestand vornehmlich aus ehemaligen britischen Offizieren. Beide Gruppen gingen extrem brutal und grausam gegen die IRA und die Zivilbevölkerung vor. Hausdurchsuchungen, Misshandlungen, willkürliche Verhaftungen, Vergewaltigungen und das Erschießen von vollkommen unschuldigen Personen häuften sich und führten dazu, dass diese Söldnertruppen bald sehr verhasst wurden. Sogar der englische König äußerte sich sehr abwertend über diese Männer, die seiner Ansicht nach das Ansehen Großbritanniens in der Welt beschmutzten. Gefangene IRA-Kämpfer wurden in der Regel gefoltert, bevor sie erschossen wurden, sehr „beliebt“ war dabei das Herausreißen der Fingernägel mit einer Kneifzange. Als der Konflikt auch auf Ulster übersprang, entfesselte er dort einen konfessionellen Konflikt, der härter und tödlicher war als alle Tumulte des vorigen Jahrhunderts zusammengenommen: Zwischen Frühjahr 1920 und Juli 1922 wurden in Nordirland 557 Mensgewaltsam ermordet, 303 von ihnen waren katholische, 172 protestantische Zivilisten und 82 Mitglieder der Sicherheitsorgane. In Belfast allein zählte man 416 getötete Zivilisten, darunter 257 Katholiken. Ebenfalls in Belfast wurden rund 10.000 Katholiken von ihren Arbeitsstellen verdrängt, an die 23.000 aus ihren Häusern vertrieben und mehr als 500 ihrer Geschäfte zerstört.
Die Teilung der Insel
Die IRA errang zwar einige militärische Erfolge, dennoch war 1921 klar, dass die etwa 5000 Aktivisten gegen die 40.000 britischen Soldaten nicht mehr lange durchhalten konnten. So nahm die IRA-Führung das Waffenstillstandsangebot vom 9. Juli 1921 an. Einige Minister des Dail, u. a. auch Michel Collins, reisten nach England, um Friedensverhandlungen zu führen. Als Ergebnis wurde nach drei Monaten der Anglo-Irische Vertrag abgeschlossen, der dem Süden die weitgehende Unabhängigkeit versprach, eine Teilung Irlands jedoch zur Bedingung machte. Der Süden erhielt den Status eines Freistaates innerhalb des Commonwealth, die Minister und Verwaltungsbeamten mussten jedoch einen Eid auf die englische Krone schwören. Die sechs nordöstlichen Grafschaften Antrim, Down, Armagh, Londonderry, Tyrone und Fermanagh, in denen die Protestanten zusammengenommen eine Zweidrittel-Mehrheit bildeten, verblieben unter der Bezeichnung Northern Ireland bei Großbritannien.
Nachdem der Vertrag im Dail mit 64 zu 57 Stimmen nur knapp angenommen und Arthur Griffith als Nachfolger de Valeras, der den Vertrag ablehnte, zum Präsidenten gewählt worden war, kam es zur offenen Spaltung von Sinn Fein und der IRA. Die Minderheit, die die Teilung nicht akzeptierte, begann bald darauf einen Bürgerkrieg, der bis Mai 1923 dauerte und zwischen 3000 bis 4000 Opfer forderte. Der Freistaat, der am 6. Dezember 1922 offiziell gegründet wurde, erhielt Waffen aus britischen Beständen und ging mit diesen gegen die Vertragsgegner vor. Männer, welche noch vor Monaten Seite an Seite gegen die Engländer gekämpft hatten, standen sich nun als Feinde gegenüber. Collins selbst fiel einem Überfall in seiner Heimat West Cork zum Opfer, in welche er gereist war, um mit Vertragsgegnern persönlich zu verhandeln. Der blutige Bürgerkrieg endete mit einem Sieg der Freistaat-Truppen. Die katholischen Bischöfe, die sich während der Unabhängigkeitskampagne der IRA eher bedeckt gehalten hatten, stellten sich nun klar auf die Seite der neuen legitimen Regierung. Dabei griffen sie zur schärfsten ihrer Waffen und exkommunizierten in einem gemeinsamen Hirtenbrief vom 10. Oktober 1922 alle, die mit Waffengewalt gegen die Regierung vorgingen. Darunter fiel zunächst auch de Valera, der den bewaffneten Kampf ausdrücklich unterstützte. Wann de Valeras Exkommunikation wieder aufgehoben wurde, wird in der Literatur nicht erwähnt. Ausseiner tiefreligiösen Einstellung ist zu schließen, dass dieser Schritt jedoch schon bald nach seiner Verhaftung erfolgt sein dürfte, da er 1927 auf einer Amerikareise in Boston von Kardinal O’Connell empfangen wurde und die Sonntagsmesse besuchte.
Die Entwicklung Nordirlands
„Ein protestantischer Staat für protestantische Menschen“ – so hatte der erste Premierminister Nordirlands, Sir James Craig (später Lord Crai gavon) Nordirland bezeichnet. In den 1920er Jahren war die nordirische Führung v. a. darum bemüht, die Existenz des eigenen Staates nach außen (gegen die Wiedervereinigungsansprüche des Freistaates) und nach innen (gegen die katholische Minderheit) abzusichern. Eine institutionalisierte Diskriminierung der Katholiken war das wesentliche Element der Absicherungspolitik im Innern. So wurde die Einstellung von Katholiken in den höheren öffentlichen Dienst von Anfang an systematisch verhindert. Premierminister John Andrews (1940–1943) bezweifelte grundsätzlich die Loyalität katholischer Beamter und wollte deshalb nach Möglichkeit gar keine dulden. Vor allem aber nahmen die nordirischen Regierungen Veränderungen am Wahlrecht vor, indem sie die Wahlbezirke zu ihren Gunsten veränderten. So hatten auch katholische Politiker in überwiegend katholischen Bezirken, wie z. B. Derry, keine Chance. Ein weiterer Punkt war die Wohnsituation: Sozialer Wohnungsbau war in Nordirland Sache der lokalen Verwaltungen. In etlichen Fällen wurde von der unionistischen Lokalverwaltung der Wohnungsbau gestoppt, weil sie keine weiteren Katholiken in ihrem Bezirk haben wollten, was die Machtbalance verändert hätte. Angesichts der höheren Geburtenrate führte dies zu einer allgemein beengten Wohnsituation für Katholiken. Als 1927 de Valera seine Partei Fianna Fail (gälisch für „Soldaten des Schicksals“) gründete, befürchtete die nordirische Regierung, dass de Valera die Einheit Irlands als vorrangiges Ziel einer Politik verfolgen würde. Derartige Bestrebungen setzten die unionistischen Führer eine militant antikatholische Rhetorik entgegen: Der spätere Premierminister Basil Brooke warf den Katholiken vor, sich zu verschwören, um den nordirischen Staat zu vernichten. Unionisten sollten daher nur Protestanten in ihren Unternehmen beschäftigen. Brooke selbst machte es vor: Als er 1933 Landwirtschaftsminister wurde, entließ er demonstrativ alle 125 katholischen Arbeiter auf seinen Gütern. Premierminister Craig prägte 1933 den Satz, er habe immer daran festgehalten, zuerst ein Oranier und erst dann Politiker zu sein.
Die Eskalation der Gewalt und das Verhalten des Klerus
Im Herbst 1968 kam es zu Zusammenstößen zwischen überwiegend katholischen Demonstranten und der Polizei bzw. Protestanten. Diese fanden im Umfeld von Kundgebungen der nordirischen Bürgerrechtsbewegung (Northern Ireland Civil Rights Association – NICRA) statt, die Diskriminierungen vonseiten des Staates und der ihn tragenden Protestanten gegenüber der katholischen Minderheit anprangerte. Am Samstag, dem 5. Oktober plante die NICRA in Derry7 einen Marsch gegen die dortigen Missstände. Er wurde jedoch von Innenminister William Craig aufgrund erfundener Tatbestände verboten: Die protestantischen Apprentice Boys hatten beschlossen, nachdem der Marsch angekündigt war, zeitgleich auf derselben Route zu marschieren. Die Organisationsleitung beschloss deshalb, sich darüber hinwegzusetzen. Als die Demonstranten sich in Bewegung setzen wollten, wurden sie von der Royal Ulster Constabulary (RUC), der britischen Polizei in Nordirland, brutal niedergeknüppelt. Die entsprechenden Fernsehbilder lösten Krawalle aus, die bis in die Nacht andauerten. Gegen 23.30 Uhr wurden Priester gerufen, um einen Aufruhr am Rande des katholischen Slumviertels Bogside beenden zu helfen. Auch an den beiden folgenden Tagen hielten die Unruhen an, während Priester wiederum die Situation zu entschärfen suchten. I
m Januar 1969 folgte die nächste Eskalation: Mitten in der Nacht fiel eine Gruppe uniformierter Polizisten in einen Teil der Bogside in Derry ein. Die Beamten zerschlugen Fenster und Türen, zertrümmerten Mobiliar, beschimpften und bedrohten die Anwohner und griffen diese auch tätlich an. Zwar wurde ein Inspektor mit der Untersuchung der Vorgänge beauftragt, seine Ergebnisse blieben jedoch unter Verschluss und es unterblieb auch eine interne disziplinarische Aufarbeitung. Am 19. April 1969 ereignete sich der erste von Polizisten begangene Totschlag an einem unbeteiligten Katholiken. Bei der Verfolgung von Randalierern in der Bogside stürmten RUC-Beamte in das Haus der völlig unbeteiligten Familie Devenny und schlugen Familienvater Samuel vor den Augen seiner Familie so brutal zusammen, dass er einen Herzinfarkt erlitt und am 17. Juli an den Folgen seiner Verletzungen starb. Am 20. April bestand die Gefahr erneuter Gewaltausbrüche, doch wieder waren es katholische Priester, die mäßigend auf die Jugendlichen einwirkten. Dass priesterliche Autorität unter katholischen jungen Erwachsenen im Jahr 1968 noch hoch geachtet wurde, belegt eine Umfrage des National Opinion Poll, nach der 46 Prozent die Priester als am meisten respektierte Gruppe angaben. Unter den Protestanten rangierten Geistliche hingegen hinter den Ärzten (39 Prozent) mit 26 Prozent nur auf dem zweiten Platz. Nach einer dreimonatigen Ruhepause brach sich im Juli die Gewalt erneut und noch massiver Bahn. In der Nacht vom 12. auf den 13. Juli kam es infolge der traditionellen protestantischen Siegesparaden zum Jahrestag der Schlacht am Boyne zu Straßenschlachten in Derry, bei denen katholische Randalierer einen aktiveren und offensiveren Anteil hatten als bisher. Wieder waren Priester auf den Straßen, um die Gewalt einzudämmen, dieses Mal jedoch mit geringerem Erfolg. Am nächsten Tag, einem Sonntag, verurteilten Fr. Anthony Mulvey und Fr. J. J. McCullagh das Auftreten der Jugendlichen von der Kanzel aus. Auch Fr. Edward Daly ging in seiner Predigt in der St. Eugene-Kathedrale mit den katholischen Tätern hart ins Gericht. Waren, wie die obige Umfrage belegt, im Jahr 1968 Priester noch eine Autorität, so änderte sich dies schon im Jahr darauf. Der antiautoritäre Zeitgeist der 1960er-Jahre hatte auch bei der nordirischen katholischen Jugend Fuß gefasst.
Der früher sehr einflussreiche Klerus hatte viel von seiner Autorität eingebüßt. So wurde z. B. der Oberhirte der Diözese Down&Connor, zu der Belfast gehörte, Bischof Philbin, im August 1969 von katholischen Jugendlichen beschimpft, weil er den Abbau von Barrikaden forderte, die zum Schutz vor loyalistischen Übergriffen errichtet worden waren. Auch in Belfast kam es im Juli zu heftigen Krawallen, verbunden mit Vertreibungen katholischer Anwohner aus protestantischen Vierteln. In Derry begann am 12. August die sogenannte Schlacht um die Bogside: Die Apprentice Boys hielten wieder eine Parade ab, es kam zu Krawallen und katholische Jugendliche verbarrikadierten sich in der Bogside. Die Polizei wurde mit Steinen und Brandflaschen eingedeckt. Die Unruhen hielten die Nacht über an und gingen am 13. August mit unverminderter Härte weiter. Doch all dies wurde durch die Ereignisse in Belfast in den Schatten gestellt. Die ethnischen Säuberungen, die dort in den Wochen zuvor begonnen hatten, wurden nun von den Loyalisten forciert. Ganze Straßenzüge wurden von einem loyalistischen Mob niedergebrannt und die Anwohner vertrieben. Die Polizei, durch die anhaltenden Unruhen völlig erschöpft, griff nicht einmal ansatzweise ein, um weitere Brandstiftungen zu verhindern. Auch die Regierung war völlig überfordert und ersuchte London um Hilfe. Bereits am 14. August trafen die ersten britischen Truppen in Nordirland ein, um die RUC zu entsetzen. Die Soldaten wurden von der katholischen Bevölkerung freudig begrüßt, wurden sie doch als neutrale Schutzmacht angesehen. Die konfessionell motivierten Übergriffe konnte sie jedoch nur teilweise unterbinden, denn die Vertreibungen hielten bis September an.
Die IRA
Die IRA spielte im Nordirland der 1960er kaum eine Rolle. Dies hatte sich offen während der Unruhen im Sommer 1969 gezeigt, als die IRA nicht in der Lage war, die katholischen Wohnviertel zu schützen. Im Dezember dieses Jahres traf sich die Army Convention, das höchste Gremium der IRA, in Dublin und stimmte mit großer Mehrheit für die Quasi-Anerkennung der beiden irischen Regierungen und Westminsters. Die Entscheidung, im Norden eine „Befreiungsfront“ mit Gleichgesinnten (u. a. Kommunisten) einzugehen, wurde unterstützt. Die Traditionalisten der Bewegung, v. a. in Belfast, konnten diesen Kurs nicht mittragen. Sie setzten auf eine Strategie des bewaffneten Kampfes, um den nordirischen Staat auf die Knie zu zwingen und den Abzug der Briten durchzufechten. Unmittelbar nach dem Treffen der Army Convention spalteten sich deshalb die Traditionalisten von der IRA ab und nannten sich fortan Provisional Irish Republican Army (PIRA, auch Provos genannt), während die Verbliebenen die Official Irish Republican Army bildeten (OIRA, auch Stickies genannt). Während die OIRA eher linksgerichtet war, war die PIRA entschieden katholisch und gesellschaftspolitisch strikt konservativ ausgerichtet. Beispielsweise erlebte der ehemalige IRA-Kämpfer Mickey McMullen während seiner Inhaftierung 1971 Folgendes: „Als ich interniert war, schickte mir ein Stabsmitglied aus den Cages sogar einen Priester vorbei, weil ich James Connolly las. Mit diesen Widersprüchen war ich konfrontiert. Warum wurde ich lächerlich gemacht, wenn ich die Werke eines irischen Patrioten las? Es gab natürlich die Angst vor dem Kommunismus, das war eine Zeit, in der die allgemeine Grundlinie der IRA die Mitgliedschaft in kommunistischen Organisationen verbot.“8 Oder als Paradebeispiel für die strikt katholisch-konservative Haltung gilt der Oberbefehlshaber der Belfaster PIRA, Billy McKee, der nicht nur für seine aufrichtige Frömmigkeit bekannt war und täglich die hl. Messe besuchte, sondern auch von seiner Umgebung einen katholischen Lebenswandel verlangte. Ein ungenannter IRA-Mann beschrieb dies wie folgt: „Du durftest dies nicht tun und durftest jenes nicht tun und von jedem wurde erwartet, in die Kirche und zur Beichte zu gehen.“9
Die OIRA spielte spätestens Anfang der 1980er-Jahre keine Rolle mehr und betätigte sich bald nur noch in der Bürgerrechtsbewegung. Die PIRA etablierte sich jedoch bald zu einem gefährlichen Gegner des nordirischen Staates und der britischen Armee. Die Britische Armee, anfangs noch als Beschützer der Katholiken gegenüber den protestantischen Fanatikern freudig begrüßt, entwickelte sich bald zu einem weiteren Unterdrückungswerkzeug der unionistischen Regierung. Der erste große Vertrauensbruch ereignete sich am 3. Juli 1970, als die Britische Armee eine Ausgangssperre über die Gegend um die Falls Road, ein katholisches Wohngebiet in West Belfast, verhängte und dort mit massivem Truppenaufgebot nach Waffen suchte. Sie wurde fündig, doch dabei wurden auch vier Zivilisten erschossen. Eines der Opfer war ein älterer Mann, der vor seiner Haustüre etwas frische Luft schnappen wollte. Das zweite einschneidende Ereignis, das der katholischen Bevölkerung zeigte, dass die Britische Armee nicht auf ihrer Seite stand, war die willkürlich praktizierte Internierung. Die nordirische Regierung hatte eine Notstandsverordnung erlassen, die es gestattete, einen Verdächtigen ohne Anklage festzunehmen und ihn auf unbegrenzte Zeit festzuhalten, ohne dass er das Recht hatte, einem Richter vorgeführt zu werden. Am 9. August, in aller Frühe startete eine Razzia, die vier Tage andauerte und zur Verhaftung von 342 Männern führte, fast alles Katholiken und größtenteils unschuldige! Die Einführung der Internierung löste eine wahre Gewaltexplosion aus, die im Chaos der Verhaftungswelle protestantischen Extremisten die willkommene Gelegenheit bot, ohne Gegenwehr weitere ethnische Säuberungen vorzunehmen. Binnen 48 Stunden wurden 17 Menschen getötet, darunter der erste katholische Priester: Fr. Hugh Mullan wollte einem Verletzten zur Hilfe eilen, als er vor einer Militärbasis eines britischen Fallschirmjäger-Regiments in Ballymurphy in West Belfast angeschossen wurde. Zuvor hatte Fr. Mullan in der Kaserne angerufen und sein Kommen angekündigt. Dazu schwenkte er, während er sich dem Stützpunkt näherte, weiße Babykleidung. Trotzdem wurde er von der Kaserne aus erschossen! Ein Jugendlicher, welcher ihm zur Hilfe eilen wollte, wurde ebenfalls erschossen. Insgesamt starben an diesem Tag fünf unbewaffnete Zivilisten, ein verwundeter Jugendlicher wurde sogar, als er auf dem Boden lag, von einem britischen Fallschirmjäger mit einem Genickschuss hingerichtet. Allein in Ballymurphy starben vom 9. bis 11. August 11 völlig unschuldige Zivilpersonen. Bis heute warten die Angehörigen der Opfer des „Ballymurphy-Massakers“ auf eine Untersuchung der Ereignisse durch die britische Regierung.
Das traumatischste Ereignis fand am 30. Januar 1972 in Derry statt, als auf einem verbotenen Protestmarsch der NICRA einige Jugendliche Steine auf die Sicherheitskräfte warfen. Daraufhin eskalierte die Lage und britische Fallschirmjäger eröffneten – wieder einmal – mit scharfer Munition das Feuer auf die unbewaffneten Randalierer. 13 Menschen wurden dabei getötet, viele von ihnen erhielten Treffer in den Rücken, was bewies, dass sie auf der Flucht vor den Soldaten erschossen wurden. Ein Mann erhielt einen Kopfschuss, als er einem Verletzten helfen wollte und dabei ein weißes Taschentuch schwenkte. Mehrere katholische Priester, die vor Ort waren, gaben folgende Augenzeugenberichte ab: Fr. Denis Bradley: „Ich stand neben einem Fallschirmjäger, nur ein paar Yards entfernt … Er schoss acht Kugeln in die Bogside. Ich sah keinen fallen. Ich bettelte ihn an, aufzuhören, aber er stieß mich weg. Er feuerte einen Schuss nach dem anderen aus der Hüfte heraus, ohne zu zielen … ich sah einen Soldaten, welcher auf Leute schoss, die wegrannten.“10 Fr. Edward Daly: „Ich rannte weg. Ein Jugendlicher rannte neben mir her. Ich hörte die ersten Schüsse fallen. Er schrie auf und fiel hin. Es wurde nun sehr viel geschossen und ich warf mich neben ihn auf den Boden … Ich hatte keine Zweifel, dass das Feuer von der Armee kam … Ich war der Erste bei dem Jungen, der erschossen wurde, während er wegrannte, und er hatte keine Waffe.“11 Ungeklärt bleibt bis heute, ob es dieselben britischen Fallschirmjäger waren, die einige Monate zuvor das Massaker in Belfast angerichtet hatten. Auch in Derry wurde ein Jugendlicher erschossen, der verwundet am Boden lag. Auch hier wurden einige der Opfer getroffen, als sie anderen zur Hilfe eilen wollten. Immerhin wurden die Ereignisse des Bloody Sunday von der Regierung umfassend untersucht. Am 15. Juni 2010 bat der britische Premierminister David Cameron im Namen der Regierung um Verzeihung für die Taten der britischen Soldaten am Bloody Sunday in Derry, nachdem die Unschuld der Getöteten erwiesen war. Allerdings wurde bis heute keiner der beteiligten Soldaten zur Rechenschaft gezogen. Solche Vorfälle trieben Hunderte von Jugendlichen in die Arme der IRA. Hinzu kam die schreckliche Tatsache, dass Hunderte von internierten Katholiken von Polizeibeamten und Soldaten auf brutalste Weise gefoltert wurden. Besonders die Priester Faul und Murray belegten mit einigen Veröffentlichungen in den 1970ern die Misshandlungen. Dazu gehörten das Überstülpen von Stoffsäcken, was zu Sauerstoffmangel führte, bis zu sechs Tage lang Dauerlärm in der Zelle, Schlafentzug, massive Prügel und qualvolle Körperhaltungen über lange Zeit. 1975 veröffentlichten Fr. Maul und Fr. Murray das 108 Seiten starke Buch „The RUC: The Black and Blue Book“, in dem sie darlegten, wie überall in Nordirland immer wieder, undohne die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, gefoltert wurde.12
Auch in der Justiz zeigte sich eine unterschiedliche Behandlung von Katholiken und Protestanten. Die durchschnittliche Dauer von Gefängnisstrafen war 1974 für Katholiken fast doppelt so hoch wie für Protestanten. Als Beispiel seien genannt: James Tate (Protestant): zwei Waffen mit Munition im Haus aufgefunden. Die Waffe wurde bei einem Anschlag auf vier Katholiken benutzt, die dabei verwundet wurden. Tate wurde als einer der Insassen des Autos identifiziert, aus dem heraus die Schüsse abgegeben wurden. Urteil: 5 Jahre Gefängnis. William Donnelly (Katholik): mit einer Waffe in einem Auto festgenommen, nachdem er auf Soldaten geschossen hatte. Dabei wurde niemand getroffen. Urteil: 20 Jahre Gefängnis. Da ja weder Polizei noch Armee und Justiz aufseiten der Katholiken waren, etablierte sich die IRA13 rasch als die Ordnungsmacht in den katholischen Vierteln von Belfast und Derry. Im Jahre 1972 war die IRA bereits in der Lage, in die Offensive zu gehen. Sie begann vermehrt, Autobombenanschläge auf die Sicherheitskräfte durchzuführen, die natürlich auch viele zivile Opfer forderten. Das Jahr 1972 wurde das blutigste des gesamten Nordirlandkonflikts, insgesamt verloren 496 Menschen ihr Leben.
Die Haltung des Klerus gegenüber Terrorismus und Terroristen
Die PIRA rechtfertigte ihre Gewalt mit dem Argument, sie führe den auch von der katholischen Kirche als legitim betrachteten Unabhängigkeitskampf der 1920er-Jahre als legitimierte Nachfolgerin der damaligen IRA fort. Dass viele ihrer Aktivisten die katholischen Wohngebiete gegen protestantische Angreifer verteidigten, verlieh ihrem Anspruch Gewicht.
Mit dem Argument, die Anwendung von Gewalt sei nicht gerechtfertigt, war die Position der PIRA in einem Umfeld allgegenwärtiger Gewalt nicht grundlegend und für jedermann einleuchtend zu erschüttern. Von kirchlicher Sicht aus eng mit der Rechtfertigung von Anschlägen verbunden war die Frage des gerechten oder gerechtfertigten Krieges, genauer die Auslegung der Bedingungen, unter denen es einem Volk gestattet ist, sich in Notwehr zu verteidigen. Diese sind: „Der Schaden, der der Nation oder der Völkergemeinschaft durch den Angreifer zugefügt wird, muss sicher fest stehen, schwerwiegend und von Dauer sein. Alle anderen Mittel, dem Schaden ein Ende zu machen, müssen sich als undurchführbar oder wirkungslos erwiesen haben. Es muss ernsthafte Aussicht auf Erfolg bestehen.“14 Alle, die diese Situation beurteilten, kamen übereinstimmend zu dem Schluss, ein gerechter Krieg scheide im Falle Nordirlands als Legitimationsgrund aus.
Am 26. Juni 1972 verkündete die PIRA eine Waffenruhe. In dieser Situation hielt Kardinal Conway eine Predigt im Clonard Monastery, dem geistlichen Zentrum des katholischen Belfast, in der er grundsätzlich die Problematik von Gewaltanwendung und Hass im Lichte des christlichen Gebots der Feindesliebe und dessen konkrete Auswirkungen auf Leben und Verhalten von Katholiken in Nordirland erläuterte und die Position der Kirche gegenüber der IRA definierte. Seine Botschaft in Richtung IRA war darin nicht zu überhören: Katholik ist nur, wer auf Gewaltanwendung verzichtet: „Ein Katholik zu sein bedeutet, Christus nachzufolgen, in Taten genauso wie in Worten. Dies ist die Anforderung Christi, welche uns alle in diesem Teil Irlands und in der gegenwärtigen Zeit betrifft – die Anforderung uns alle selbst zu Frieden und Vergebung zu verpflichten, selbst wenn dies bedeutet, die eigenen Gefühle und Empfindungen zu kreuzigen. Sich selbst einen Katholiken zu nennen, bedeutet nichts, wenn wir nicht bereit sind, diese Anforderung zu erfüllen.“15 Was der Kardinal aber nicht tat, war, die Mitglieder der IRA als solche zu verdammen oder sie gar verbal aus der Kirche auszuschließen. Er legte den Weg klar fest, den ein nordirischer Katholik in puncto Gewalt zu gehen habe. Einzelne danach zu richten, ob sie sich an diesen Weg hielten, vermied er jedoch.
Am 9. Juli 1972 beendete die IRA nach gescheiterten Geheimverhandlungen mit der britischen Regierung ihre Waffenruhe. Die Rückkehr zu den Zeiten alltäglicher Gewalt läutete die IRA am 21. Juli mit dem Bloody Friday ein. Sie zündete in Belfast innerhalb von 75 Minuten 22 Bomben, die neun Todesopfer und etwa 130 Schwerverletzte forderten. Der katholische Klerus verurteilte die Tat einhellig. Im August erklärte der Bischof von Clogher, Patrick Mulligan: „Diese Gewalt ist ein gravierender Verstoß gegen das fünfte und siebte Gebot Gottes und steht in direktem Gegensatz zur Lehre Christi. Es gibt keine rechtmäßige Autorität im Himmel oder auf Erden, welche euch eine andere Lehre darlegen kann oder vor dem Allmächtigen das Verhalten jener rechtfertigen kann, die diese Gewalt aufrechterhalten und fortführen.“16
Mitte Dezember 1973 reagierte Kardinal Conway auf die Entführung und Ermordung eines früheren Polizisten durch die IRA. Dabei strich er die Folgen für die Täter in drohendem Ton heraus: „Bewusst ein menschliches Leben auszulöschen ist eine Todsünde … Jene, die diese Taten begehen, werden dafür leiden, in diesem Leben sowie im nächsten Leben. Sie haben vielleicht eine Mauer um sich errichtet, die sie vor normalen menschlichen Gefühlen, wie Schrecken und Abscheu bezüglich solcher Verbrechen, schützt. Aber mit der Zeit wird dieser Schutzwall zusammenbrechen und sie werden gequält werden von Reue und Schuldgefühlen. Jene, die solches tun, werden früher oder später herausfinden, dass sie ihren Seelenfrieden irreparabel geschädigt haben … Gott lässt seiner nicht spotten! Diejenigen, welche erklären, Christen zu sein, und zur gleichen Zeit sich das Recht aneignen, wie Gott über das menschliche Leben bestimmen zu können, werden eines Tages lernen, dass dies keine leere Warnung war.“17
Doch die IRA reagierte mit Gleichgültigkeit oder gar offener Ablehnung auf die Äußerungen der Bischöfe und Priester. Die Kirchenleitung hatte ihren Spielraum in der Tat rhetorisch ausgeschöpft. Die letzte Möglichkeit wäre die formelle Exkommunikation von IRA-Mitgliedern oder ihrer Unterstützer gewesen, wie dies 1922 während des irischen Bürgerkrieges praktiziert worden war. Im Januar 1975 äußerte sich Bischof Peter Birch in einem Radiointerview diesbezüglich und vertrat die Meinung, IRA-Kämpfer seien ipso facto exkommuniziert, weil sie sich durch ihre Taten selbst aus der Kirche ausgeschlossen hätten. Kein katholischer Geistlicher verweigerte jedoch bekannten IRA-Aktivisten die hl. Kommunion. Fr. Edward Daly sagte dazu, dass ein Priester ja nicht mit letzter Sicherheit über den Seelenzustand eines ihm gegenüberstehenden Republikaners informiert sein könne. Aufgrund des Fehlens einer formalen Exkommunikation ermögliche ja die hl. Beichte theoretisch jederzeit eine Rückkehr in den Stand der heiligmachenden Gnade.
Wie oben bereits erwähnt, waren viele IRA Kämpfer v. a. in den 1970ern praktizierende Katholiken und regelmäßige Kirchgänger. Wie konnten in solchen Fällen die betroffenen IRA-Leute die Spannung zwischen der offiziellen Kirchenlinie und ihrer persönlichen Religiosität ertragen? Eine Teilantwort vermag die Sichtweise der IRA auf die katholische Kirche zu geben. Das Presseorgan von Sinn Fein, dem politischen Arm der IRA, sah eine Gespaltenheit der irischen katholischen Kirche zwischen den Bischöfen auf der einen und den Laien und Priestern auf der anderen Seite. Letztere wurden als Verbündete der einfachen Leute angesehen. Die Bischöfe wurden – wie die Amtskirche im Allgemeinen – als probritisch und antiirisch kritisiert. Die Kirchensicht der IRA führte auf eine beinahe säkulare Definition des Begriffs „Katholizismus“ hinaus, in dem die „Benachteiligten und politisch Ausgeschlossenen, Bedrohten, Überfallenen, gefangen Gehaltenen, Geschlagenen und Ermordeten“18 als Katholiken galten. Christus – verkörpert auch im volksnahen Priester – wurde hierbei als revolutionärer Befreiungskämpfer beschworen. Die Solidarität der einfachen Priester mit den als Kirchenvolk definierten IRA-Kämpfern und deren Sympathisanten endete jedoch in der Regel an der Schwelle zum Einsatz von Gewalt. Ein zweiter Punkt, der für Republikaner die Aufrechterhaltung ihrer Religiosität innerhalb der Kirche erleichterte, war die klare Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche von Kirche und Staat. So konnten sie ohne Gewissenskonflikte Vorgaben der Kirche zu Abtreibung, Scheidung und Empfängnisverhütung akzeptieren und befolgen. Die Gewaltproblematik war hingegen eine politische Frage und lag somit außerhalb des kirchlichen Bereichs.
Die katholischen Geistlichen Nordirlands hatten keinen Einfluss mehr auf die IRA. Daran änderte auch der Papstbesuch von 1979 nichts. Papst Johannes Paul II. richtete auch eine Botschaft an die Menschen Nordirlands, in der er sie anflehte, den Weg der Gewalt zu verlassen. Seine Worte verhallten ungehört … Problematisch wurde auch die weitere Entwicklung der IRA, die zusehends nach links abdriftete. Oft kam es vor, dass Verlautbarungen der IRA nachträglich verbessert wurden, da darin ein zu linker Ton angeschlagen worden war, was v. a. die noch sehr konservativen katholischen Geldgeber in Amerika verärgerte.
Die weitere Entwicklung in Nordirland bis zum Friedensprozess
Gegen Ende der 1970er hatte die Gewalt etwas nachgelassen, jedoch kam es Anfang der 1980er wieder zu einer enormen Eskalation, als sich 10 republikanische Häftlinge aus Protest gegen die entzogenen Sonderrechte, die ihnen bis dahin gewährt worden waren, zu Tode hungerten. Der Bekannteste unter ihnen war Bobby Sands. Dabei kam es erneut zu einer Spaltung zwischen Amtskirche und katholischer Bevölkerung in Nordirland, da Erstere den Hungerstreik ablehnte und einige Priester auch die Angehörigen von Hungerstreikern dazu brachten, ihre Söhne zwangsernähren zu lassen, sobald diese das Bewusstsein verloren. Andererseits hatte der Hungerstreik zu einer Radikalisierung unter Katholiken geführt und die zehn Verstorbenen genossen und genießen noch heute unter ihnen große Verehrung und Bewunderung.
Zu einer weiteren Welle der Gewalt führten die sogenannten shoot-to-kill-Einsätze des Special Air Service (SAS), einer britischen Spezialeinheit. Bei diesen Einsätzen wurde ohne Vorwarnung auf IRA-Kämpfer geschossen, eine Festnahme war in der Regel nicht vorgesehen. Als Beispiel seien die Ereignisse in Gibraltar vom 6. März 1988 erwähnt, als drei IRA-Mitglieder auf offener Straße erschossen wurden – auch nachdem sie bereits die Hände gehoben hatten, als sie die Waffen der in Zivil gekleideten SAS-Männer sahen.
Gewalt war alltäglich in Nordirland: Schusswechsel zwischen IRA und Armee, Bombenanschläge, politisch und konfessionell motivierte Morde und Straßenschlachten zwischen Jugendlichen beider Konfessionen und den Sicherheitskräften. Wer als Katholik versehentlich in das falsche Viertel kam, musste bei Angriffen durch Protestanten durchaus um sein Leben fürchten, auch wenn sich Polizisten in der Nähe befanden. Ob diese einem Taig (sehr abwertendes Schimpfwort für Katholiken) helfen würden, war sehr fraglich. Es gab kaum noch „gemischte“ Wohngebiete und in den katholischen Ghettos von Derry und Belfast hatte die RUC keine Macht und musste sich in festungsartige Polizeistationen zurückziehen.
Ende der 1990er kam es zu ernsthaften Friedensgesprächen, die zu dem Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 führten, welches festlegte, dass die Republik Irland den in ihrer Verfassung verankerten Anspruch auf Nordirland streichen muss. Der einzige Weg zu einer Wiedervereinigung besteht danach in einer Volksabstimmung. Ein weiteres Ergebnis dieses Abkommens war die Reform der RUC. Diese heißt seit 2001 Police Service of Northern Ireland (PSNI) und soll zu 50 Prozent aus Katholiken bestehen. Das Karfreitagsabkommen fand großen Rückhalt in der katholischen Bevölkerung, stimmten doch 96 Prozent von ihnen am 22. Mai 1998 für das Abkommen. Die IRA hatte 1994 einen einseitigen Waffenstillstand und nochmals einen im Jahre 1997 ausgerufen. 2005 begann sie sich zu entwaffnen und erklärte 2007 den bewaffneten Kampf offiziell für beendet. Es gibt noch zwei Splittergruppen, die Real IRA und die Continuity IRA, welche v. a. im letzten Jahr mit Anschlägen auf Soldaten und Polizisten in Erscheinung traten. Die Britische Armee begann im Jahre 2007 damit, ihre Truppen abzuziehen.
Insgesamt verloren in den 30 Jahren Troubles, wie der Nordirlandkonflikt auch genannt wurde, annähernd 3300 Menschen ihr Leben. Nordirland bleibt eine tief gespaltene Gesellschaft entlang der konfessionellen Grenzen. Als besonders gefährlich könnte sich auf längere Sicht die demografische Entwicklung erweisen. Diese ist so brisant, dass beispielsweise die Daten der letzten Volkszählung von 2001 über ein Jahr später veröffentlicht wurden, denn die darin enthaltenen Zahlen sprechen eine klare Sprache: Die konfessionelle Zusammensetzung der nordirischen Bevölkerung ändert sich dramatisch. Der geschätzte19 Anteil der Katholiken hat sich auf nahezu 44 Prozent erhöht (1961 waren es 35 Prozent, 1991 bereits 41,5); der Anteil der Angehörigen einer protestantischen Religionsgemeinschaft liegt bei knapp 53 Prozent. In absoluten Zahlen heißt das: Seit 1991 ist die Zahl der Katholiken aufgrund der beträchtlich höheren Geburtenrate um rund 85.000 auf jetzt 730.000 gestiegen, während die Zahl der Protestanten weiter sinkt. Der Tag ist demnach abzusehen, an dem die Katholiken die Mehrheit in Nordirland stellen werden. Damit wäre auch die Möglichkeit einer Volksabstimmung zur Wiedervereinigung mit der Republik Irland eine realistische Option. Man muss sich vor Augen halten, wie tief die Angst der nordirischen Protestanten vor diesem Szenario ist.
Schlussbetrachtung
Die providentielle Erwählung des irischen Volkes als Missionar Mitteleuropas haben wir gesehen. Eine Wiedervereinigung der gedemütigten irischen Nation liegt nach so vielen Jahrhunderten der Unterdrückung im Bereich des Möglichen. Aber was wäre sie wert, wenn die Iren ihre schönste Krone, ihre Katholizität, verlören? Ein neuer, antichristlicher Geist, der die politische Rolle der katholischen Kirche (kurzum: den einzigen Grund, warum die irische Nation heute noch besteht) negiert, ist auch in Irland angekommen. Beten wir also für unsere Glaubensbrüder in Irland, dass sie ihren teuren Glauben nicht verlieren, und dort, wo sie ihn verloren haben, wieder zu ihm zurückkehren mögen.
Literatur
– Büchele, Markus: Autorität und Ohnmacht. Der Nordirlandkonflikt und die katholische Kirche (Historische Mitteilungen im Auftrage d. Ranke-Gesellschaft (HMRG), Bd. 77). Stuttgart (Franz Steiner) 2009.
– Otto, Frank: Der Nordirlandkonflikt. Ursprung, Ver lauf, Perspektiven. München (C.H. Beck) 2005.
– Multhaupt, Hermann: Das große Irlandbuch. Gebete, Segenswünsche & Geschichten. Mit dem historischen Roman „Cromwells Rache“. Leipzig (St. Benno) 2007.
– Noetzel, Thomas: Geschichte Irlands. Vom Erstarken der englischen Herrschaft bis heute. Darmstadt (Primus) 2003.
– Elvert, Jürgen: Geschichte Irlands. München (dtv) 41999.
– Bean, Kevin / Hayes, Mark (Hrsg.): Republican Voices. Stimmen aus der irisch-republikanischen Bewegung. Mit einem Vorwort von Bernadette McAlliskey. Münster (Unrast) 2002.
– Barry, Tom: Guerilla Days in Ireland. A Personal Account of the Anglo-Irish War. Dublin (Irish Press Ltd) 11949; Cork (Mercier Press Ltd) 1955; Lanham/Maryland (Roberts Rinehart Publishers) 1995.
– Wikipedia-Artikel: Balinglass Incident; List of religious slurs.
Anmerkungen
1 Noetzel, S. 58.
2 1913 von J.Connolly und Sean O’Casey gegründet, um streikende Arbeiter gegen die Polizei zu verteidigen.
3 Noetzel, S. 95.
4 Während des Ersten Weltkrieges dienten 170.000 Iren in der britischen Armee, was 44 Prozent der männlichen Bevölkerung im wehrfähigen Alter entsprach. Von den 40–50.000 Iren, die im Krieg fielen, waren etwa die Hälfte Ka tholiken (Otto, S. 59).
5 Diese Formulierung ist nicht die Meinung des Verfassers, sondern spiegelt das damalige Denken wider.
6 Als „Republikanismus“ wird in Irland eine radikalisierte Strömung des irischen Nationalismus bezeichnet. Da dieser seine Ursprünge bei Wolf Tone hatte und in der IRB seine Fortsetzung fand, war die Kirche anfangs kritisch, da diese Bewegungen antiklerikale Züge trugen.
7 Offiziell hieß die Stadt damals Londonderry. Kein Natio nalist jedoch nahm diesen Namen in den Mund, stattdessen sagten sie Derry.
8 Bean, Kevin / Hayes, Mark (Hrsg.): Republican Voices. Stimmen aus der irisch-republikanischen Bewegung. Mit ei nem Vorwort von Bernadette McAlliskey. Münster (Unrast) 2002, S. 47.
9 Büchele, S. 201.
10 Büchele, S. 147.
11 Büchele, S. 147.
12 Sie zählten darin 26 RUC-Stationen und Armeekasernen auf und belegten von 1971–1973 400 Fälle (Büchele, S. 159).
13 Die Abkürzung IRA bezieht sich im weiteren Verlauf auf die Provisional IRA, da die OIRA nach ihrer Ende Mai 1972 erklärten Waffenruhe den bewaffneten Kampf fast vollständig eingestellt hatte.
14 Katechismus der katholischen Kirche, München 1993, S. 586, Art. 2309.
15 Büchele, S. 190.
16 Ebd., S. 192.
17 Büchele, S. 195.
18 an Phoblacht am 27.7.1973, 16.8.1974 und 29.9.1974
19 Die Zahl derer, die ihre Konfession offen als katholisch angaben, liegt etwas niedriger (Otto, S. 148).