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Der Kirchenbau des Historismus
Erschienen in:
Die Wiederbelebung der Gotik
Im 19. Jahrhundert wurden mehr Kirchen gebaut als in irgendeinem anderen Jahrhundert zuvor oder danach. In Europa war es eine Zeit rapiden Bevölkerungswachstums und in der übrigen Welt eine Ära starker Missionstätigkeit.
Architektonisch jedoch brachte das 19. Jahrhundert zum großen Bedauern vieler Architekten keinen eigenen Stil hervor. Ihnen blieb nur die Wahl zwischen den Stilen der Vergangenheit.
Im Gegensatz zu vorhergehenden kunsthistorischen Epochen ist für den sogenannten Historismus ein gleichzeitiger Stilpluralismus charakteristisch, der sich aber schon im Nebeneinander von Klassizismus und Romantik um die Wende zum 19. Jahrhundert ankündigte. Der Klassizismus war nach wie vor populär, vornehmlich in Frankreich und Amerika. Ebenso fanden sich aber auch Verfechter einer Neuauflage der alten, vorhergehenden überlieferten Stile.
Stilphasen des Historismus (Neo-Stile)
Stilgeschichtlich unterscheidet man zwischen „romantischem Historismus“ (vor 1870), „strengem Historismus“ (1870–1890) und „Späthistorismus“ (ab 1890).
Bevorzugter Stil des „romantischen Historismus“ war die Neugotik (im Kirchenbau repräsentiert z. B. durch die Fertigstellung des Kölner Doms, die Apollinariskirche in Remagen, die Mariahilfkirche in der Au in München, die Ludwigskirche in München, die Friedrichwerdersche Kirche in Berlin, die Herz-Jesu-Kirche in Graz und die Votivkirche in Wien; an weltlichen Bauten sind viele Rathäuser, wie das neue Rathaus in München und die Parlamentsgebäude in London und Budapest im neogotischen Stil errichtet).
Der „strenge Historismus“ bevorzugte die Neorenaissance. Sie wurde für Opernhäuser, Museen, Banken und Bürgervertretungen prägend (wie die Semperoper in Dresden, die Wiener Staatsoper, das Parlament (Bundeshaus) in Bern).
Der „Späthistorismus“ (nach 1890) wandte sich dem Neobarock und der Neoromanik zu. Besonders gerne wurden staatliche Repräsentationsbauten im Neobarock errichtet (wie der Justizpalast in Brüssel, die Neue Hofburg in Wien, das Schloss Herrenchiemsee, der Berliner Dom, die Pariser Garnier Oper, das Schloss Linderhof (z. T. im Neorokoko)). Das Schloss Neuschwanstein und die Pauluskirche in Basel sind im neoromanischen Stil erbaut.
Der Sakralbau im Historismus: Die Wiederbelebung der Gotik
Am bedeutungsvollsten für den Sakralbau war die Neugotik und später im deutschsprachigen Raum bis ins 20. Jahrhundert hinein die Neoromanik.
England
England war ebenfalls bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom Klassizismus geprägt, obgleich die Gotik dort immer unterschwellig weiterexistierte und die englischen Baumeister die Kunst der Gotik weiter beherrschten.
Zum Durchbruch für eine Wiederbelebung der Gotik kam es vor allem durch den englischen Architekten und Architekturtheoretiker August Pugin (1812–1852) und den Architekten Ruskin. Pugin war maßgeblich 1835/36 an der Planung des heute berühmten Londoner Parlamentsgebäudes beteiligt.
Der Anglikaner Pugin konvertierte 1834 zur römisch-katholischen Kirche. Den seinerzeit in England vorherrschenden Klassizismus betrachtete er als heidnisch und eines christlichen Landes unwürdig.
Da er die Gotik mit dem „Zeitalter des Glaubens“ in Verbindung brachte, in dem das Christentum seiner Meinung nach am reinsten und stärksten Ausdruck gefunden hatte, bezeichnete Pugin die Gotik als einzigen christlichen Stil überhaupt. Die Gotik sollte seiner Meinung nach alles durchdringen, nicht nur den äußeren Bau, sondern auch seinen Zweck, seine Innenausstattung bis hin zur Liturgie (die liturgischen Gewänder), ja sogar die dahinter stehende Theologie. Mehr als zwei Generationen blieben die englischen Architekten der Neugotik verhaftet. Es kam sogar eine neue Wissenschaft auf: die ecclesiology oder Kirchenbaukunde, die sicherstellen wollte, dass der Bau auch genau diesen Vorgaben entsprach.
Die katholische Kirche wurde für Pugin zum Hauptauftraggeber. Über 60 katholische Kirchen, darunter einige Kathedralen, wurden in England von Pugin erbaut. Zu seinen bedeutendsten Bauten gehören unter anderem die Kathedralen St. Chad’s (1839–1841) in Birmingham, die erste in England gebaute Kathedrale seit der Reformation durch Heinrich VIII., die Kathedrale von Nottingham (ab 1844) sowie die sehr schöne Marienkathedrale von Killarney (1840–1855).
Ein weiteres Kennzeichen der englischen Neugotik war der Export des Stils in die ganze englischsprachige Welt – in die Kolonien und den späteren Commonwealth. Dasselbe trifft allerdings auch auf die kontinentale Neugotik zu. So sind die deutschen Baustile der Neugotik in Namibia bis heute erhalten geblieben – obwohl die deutsche Kolonie im Ersten Weltkrieg von den Engländern besetzt wurde – und bestimmen auch in unseren Tagen noch das Stadtbild von Windhuk, der winzigen Hauptstadt. Typisch deutsch ist vor allem die katholische Kathedrale mit ihrer Doppelturmfassade, den Spitztürmen und den leuchtend bunten Glasfenstern. Manche der europäischen gotischen Kathedralen wurden in Nordamerika und in den Missionsgebieten in Übersee regelrecht kopiert. So erinnert die zwischen 1858 und 1888 in weißem Marmor und Stein erbaute St. Patrick’s Cathedral in New York City mit ihren fast 100 Meter hohen Westtürmen an den Kölner Dom und die Basilika von Lujan in Argentinien mit ihrer Doppelturmfassade an die französische Kathedrale von Chartres. Ebenfalls an Chartres orientierte man sich beim Bau der 1863 fertiggestellten Kathedrale von Kanton in China, mit ihren knapp 50 Meter hohen Türmen. Während der Kulturrevolution in China zum Warenhaus zweckentfremdet, wurde der Bau mittlerweile den Katholiken zurückgegeben.
Trotz der weiten Verbreitung der Neugotik in Europa war sie jedoch nirgends so ideologisch inspiriert und von Gelehrten beeinflusst wie in England und den Gebieten der englischsprachigen Welt. So waren die Stile der Kirchendekoration (Malerei und Kirchenfensterdarstellungen), die sich weltweit ausbreiteten, denn auch mehr den Engländern, den „Präraffaeliten“ Rossetti, Morris, Burne-Jones, als den Deutschen „Nazarenern“ Cornelius und Overbeck, verpflichtet, obwohl die deutsche Künstlergruppe der „Nazarener“ (Nazarenerstil) den englischen „Präraffaeliten“ vorausgegangen war.
Deutschland und Frankreich
In Deutschland waren es vor allem die Romantiker, die erneut den Blick auf das Mittelalter, vor allem auf die Baukunst der Gotik, lenkten, sie galt ihnen als deutscher „Gegenentwurf“ zur heidnischen Antike.
Bereits 1773 hatte Goethe (1749–1832) in seinem Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ seiner Bewunderung für das Straßburger Münster Ausdruck verliehen und die Gotik zu einem spezifisch deutschen Stil erklärt. Damit gab Goethe der Baukunst der Gotik eine „nationale Dimension“ und hob somit auch ihre Unabhängigkeit von der klassischen Tradition hervor.
1814 forderte der Publizist Joseph Görres die Fertigstellung des seit 1560 nicht wesentlich weitergeführten Kölner Doms. Die Fertigstellung des Kölner Doms festigte und vereinte das ganze deutsche Volk und trug somit zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl, ja zu einem Nationalbewusstsein Deutschlands bei, das bis dahin keine „Nation“ im eigentlichen Sinne war, sondern in viele Kleinstaaten und Fürstentümer aufgeteilt war, bis es 1871 zur deutschen Reichsgründung kam.
War die Neugotik in England hauptsächlich religiös, in Deutschland religiös, historisch und romantisch eingefärbt, so galt sie in Frankreich vor allem als „gelehrt“. Ihr größter Förderer war der Architekt, Kunsthistoriker und Restaurator Eugène Violettle-Duc (1814–1979), der viele französische Baudenkmäler aus dem Mittelalter restaurierte, unter anderem Notre Dame und die Sainte-Chapelle in Paris. Er sah in der Gotik in erster Linie ein rationales Bausystem. Durch seine vielen Skizzen und Aufzeichnungen, die auf die Neugotik wirkten, trug er besonders zum Stil des Historismus bei.
Das Ende des Historismus beginnt mit dem Jugendstil um 1895, allerdings wurden in den darauffolgenden Jahren und auch Jahrzehnten immer noch Kirchen in einem Neo-Stil gebaut. Ab dem späten 19. Jahrhundert erfreute sich vor allem im deutschsprachigen Raum neben der Neugotik auch die Neuromanik im Kirchenbau großer Beliebtheit. So wurden fast bis zum Ersten Weltkrieg (1914–1918) neugotische und neuromanische Kirchen gebaut, oftmals mit einer sehr schönen und hochwertigen Innenausstattung, die leider im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils später oftmals mit einer großen Geringschätzung entfernt, ja regelrecht zerstört wurde (Bildersturm des 20. Jahrhunderts).
Nach dem Ersten Weltkrieg genoss der Historismus keine besondere Wertschätzung mehr. Der Rückgriff auf ältere Stile wurde als mangelnde Eigenständigkeit interpretiert.