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Der Kirchenbau des Klassizismus
Erschienen in:
Schlichte Eleganz für Gott (1770-1840)
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts regten sich vor allem in Frankreich zahlreiche Stimmen, die eine Erneuerung des barocken Sakralbaus forderten. Als Ideal galt eine klare und lichte Architektur, die zu den Ursprüngen der Baukunst in der Antike zurückkehrte.
Der Umbruch durch die Revolutionen hatte in den Jahrzehnten um 1800 auch für die Kunst schwerwiegende Folgen. Das „Gesamtkunstwerk“ des Barock war in Kirche und Palast realisiert worden. Nach den Revolutionen waren die gesellschaftlichen Kräfte des Adels und des Klerus, die den Barock trugen, geschwächt, seine Stilmittel aufgebraucht und zum Schluss in der Kleinteiligkeit und Verspieltheit des Rokoko aufgegangen. Kirche und Adel werden nun nach und nach aus ihrer Aufgabe als Kulturträger entlassen. Der Kirchenbau steht erstmals nicht mehr an der Spitze der stilbildenden Architektur. Das Bürgertum gewinnt mehr und mehr an Einfluss in der Gesellschaft und benötigt Bauten zu Zwecken seiner Repräsentation. Eine Repräsentation allerdings, die sich unterscheidet vom „glanzvoll geschwungenen Barock“, den man mit dem Absolutismus und dem Ancien Régime (dem „Alten Regime“) gleichsetzt. Ab den 1790er-Jahren galt der Klassizismus in Frankreich als der „Stil der Revolution“. Im Verhältnis zum Barock kann folglich der Klassizismus als künstlerisches Gegenprogramm aufgefasst werden.
Mit Napoleons Machtergreifung und Kaiserkrönung am 2. Dezember 1804 in Notre- Dame – mit einem goldenen Lorbeerkranz statt einer Krone (um an die Cäsaren der Antike zu erinnern) – verbreitet sich der neue Stil in seinem Machtbereich sehr schnell. Später nennt man den Klassizismus in Frankreich auch Empire-Stil, besonders in Bezug auf die Innenausstattung, z. B. das Mobiliar.
Vorbild des neuen Stils war die klassischrömische und griechische Antike – ebenso, wie es schon in der Renaissance der Fall war, nur diesmal gelehrter, archäologisch fundierter und ernsthafter. Außerdem bezog der Klassizismus im Gegensatz zur Renaissance nun auch die ganze Tempelfront mit Säulen und Giebeln mit ein (vgl. zum Beispiel die 1807– 1842 in Paris entstandene Kirche St. Madeleine). Das Interesse an der reinen Geometrie erwachte wieder, bezeichnenderweise jedoch weniger an dynamisch geschwungenen Formen – wie dem Kreis, dem Oval oder der Spirale – als an statisch rechteckigen Formen wie Würfel und Pyramide. Wie in der Renaissance erschien es den Architekten naheliegend, den Weg zu Gott über die klassische Antike und die abstrakte Ordnung zu suchen.
Zeit und Epoche
Die Abgrenzung der Zeit des Klassizismus ist nicht einfach. Als Klassizismus bezeichnet man beispielsweise die Baukunst des Architekten Andrea Palladio (1508–1580) im Raum Venezien und Norditalien ebenso wie die Baukunst in Frankreich, Holland und England im 17. Jahrhundert. Tatsächlich gab es seit der Renaissance (die ja selbst eine Interpretation der antiken Kunst darstellt) eine klassizistische Unterströmung, die auch in der Zeit des Barock immer wirksam blieb. Besonders in Frankreich war ein klassizistischer Grundgeschmack (Gout classique) das ganze 17. und 18. Jahrhundert hindurch unterschwellig überall vorhanden.
Hauptsächlich aber wird als „Klassizismus“ eine Epoche der gesamten Kunstgeschichte im späten 18. Jahrhundert und frühen 19. Jahrhundert ca. 1770–1840 bezeichnet. Als geistiger Vater und Urheber des Klassizismus im deutschsprachigen Raum gilt vor allem der berühmte Begründer der klassischen Archäologie und der modernen Kunstwissenschaft, Johann Joachim Winckelmann (1717–1768).
Form und Stil
Das Hauptmerkmal klassizistischer Baukunst ist das Streben nach rationalen, verbindlichen und allgemeingültigen ästhetischen Regeln sowie ein Drang zu Monumentalität und Größe. Zu den Prinzipien dieser Architektur gehören die Verwendung griechischer und römischer Tempelmotive (Dreiecksgiebel, Portikus), der konstruktive Einsatz der dorischen, ionischen und korinthischen Säulenordnung, die einfache blockhafte Bauweise und sparsames Dekor. Die klaren und strengen Formen sind vorwiegend symmetrisch angeordnet. Die Reduktion auf geometrische Körper geht mit einer Dominanz von rechten Winkeln und geraden Linien einher. Dreieck, Quadrat, Kugel, Kreis, Pyramide und Säulen bilden die schlichten Grundformen der klassizistischen Architektur.
Stilprägende Bauten
Stilprägende Bauten sind vor allem Repräsentationsbauten: Parlamentsgebäude wie das Kapitol in Washington, das Parlamentsgebäude in Wien, die Stadtkirche in Karlsruhe, Museen, Galerien, Siegesdenkmäler, wie der Triumphbogen und das Pantheon in Paris (ehem. Kirche St. Geneviève), Gedenkbauten, wie die Walhalla bei Regensburg, die Befreiungshalle in Kehlheim und Stadttore. Als Hauptstädte des Klassizismus in Deutschland gelten Berlin (vgl. die Siegessäule, das Brandenburger Tor, das Alte Museum, die katholische St. Hedwigs-Kathedrale, die St. Elisabethkirche) und München (vgl. die Propyläen, die Glyptothek, den Königsplatz, die Alte Pinakothek usw.). In Berlin wirkte vor allem der Architekt Karl Friedrich Schinkel (1781–1841), in München Leo von Klenze (1784–1864).
Kirchen
Klassizistische Kirchen zeigen vornehme Würde und Ernst. Sie verherrlichen in ihrem Baustil die Antike, die damals im Mittelpunkt des bürgerlichen Interesses stand. Die Grundformen sind, wie bereits beschrieben, schlicht. Bevorzugt findet sich die Saalkirche mit Mittelgang und vor die Apsis geschobenem Altar. Der Innenraum ist wie bei den Zentralbauten nahezu quadratisch. Sparsam werden die Wände mit klassischen Ornamenten wie Eierstab, Zahnschnitt, einfachen Gesimsen oder Girlanden geschmückt. Den Abschluss nach oben bildet oftmals eine Kassettendecke. Nur vereinzelt finden sich statisch anmutende, strenge, dem Vorbild der Antike nachempfundene Marmorstatuen, die mit glatter Oberfläche auf modellierende Licht- und Schattenwirkung verzichten.
Da die Kirchen nach den Vorbildern von antiken, heidnischen Tempeln errichtet wurden, weisen sie – anstelle der heidnischen Götter und Helden – im Frontgiebel Christusdarstellungen auf, wie beispielsweise bei den Kirchen St. Madeleine oder St. Sulpice in Paris. Sehr beliebt im Klassizismus war auch die Nachbildung des römischen Pantheons in Rom als katholischer Sakralbau. Augenfällig hierfür sind die Kirchen St. Ludwig in Darmstadt, die St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin, die Kirche der Benediktinerabtei St. Blasien im Schwarzwald sowie in Italien San Francesco di Paola (1816–1824) in Neapel und Gran Madre di Dio (1818–1831) in Turin.
Der Klassizismus wurde nach 1800 auch in anderen Ländern positiv aufgenommen, außerhalb Europas auch in den USA, besonders in Washington. In Skandinavien und in Russland entstehen im Klassizismus ebenfalls viele Repräsentationsgebäude (z. B. das Schloss in Oslo) und Kirchen (z. B. der Dom St. Nikolaus in Helsinki 1826).
Besonders interessant und auch bekannt ist die protestantische Hauptkirche von Kopenhagen des Architekten Christian Frederik Hansen (1756–1845), die 1811–1829 erbaute klassizistische Frauenkirche. Wie in Skandinavien üblich ist sie mit einer Art Kommunionbank um den „Hochaltar“ herum ausgestattet und weist von Gliederung und Aufbau her verblüffende Ähnlichkeit mit der barocken Schlosskirche von Versailles auf. Berühmt sind in ihr die Skulpturen der 12 Apostel und des „Christus mit nach unten ausgebreiteten Armen“ des bekannten dänischen Bildhauers Bertel Thorvaldsen (1770–1844). Diese Christusskulptur gilt als Meisterwerk des Klassizismus. (Man kann sie öfter auf alten Friedhöfen an alten Grabstätten sehen, aus Stein gemeißelt oder meist in Bronze gegossen.)
Erwähnenswert ist auch die Kathedrale der Jungfrau von Kazan (1801–1811, ein klassizistischer Bau mit barockem Dekor) in St. Petersburg in Russland. Sie erinnert mit ihren halbkreisförmigen Kolonnaden sehr stark an St. Peter in Rom. Als russisch-orthodoxe Kirche gebaut, im Kommunismus als Museum benutzt, ist sie teilweise heute wieder für die hl. Liturgie geöffnet.