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Die abendländische Reaktion – Teil 1

Erschienen in:
DGW-2013-2-Die-katholische-Reaktion

Über das Zweite Vatikanische Konzil (1962– 1965) wird auch über 45 Jahre danach noch intensiv gestritten. Dabei wird nicht selten der Anschein erweckt, alleine mit einer Revision dieses Konzils könnte man die derzeitige Kirchenkrise beenden. Zum einen jedoch fanden die Ideologien, die für den heutigen Zustand der katholischen Kirche hauptverantwortlich sind und meist mit dem Schlagwort „Modernismus“ zusammengefasst werden, schon Jahrzehnte vor dem Konzil Verbreitung. Zum anderen wird außer Acht gelassen, dass eben diese Ideologien nun seit über 200 Jahren einen entscheidenden Einfluss auf Politik und Gesellschaft haben. Die mitunter tiefen Gräben, die sie bei ihrem erstmaligen Auftreten gezogen haben, sind nun schon lange zugeschüttet. Auf diesem Boden hat man gewaltige Festungen errichtet, um zu zeigen, dass Alternativen nicht möglich sind. Oder vielmehr, dass Alternativen nicht möglich sein dürfen.

Einer dieser Gräben ist die Frage nach der Beziehung zwischen Weltlichem und Geistlichem, die in der Regel sehr eng ist. Heute jedoch darf Religion nur noch Privatsache sein und ist in der Öffentlichkeit kaum mehr präsent – allenfalls als sinnentleerte Folklore oder Goldesel, der vor den Karren des Marktes gespannt wird.

 

Aus diesem Grund ist das Verhältnis gestört. Beeinflussten sich Weltliches und Geistliches in den Anfangszeiten der Moderne noch gegenseitig und bedingten einander, so scheint die Gesellschaft heute vielmehr der Religion einseitig Forderungen zu diktieren, ohne ihrerseits auch nur einen Hauch von Kritik ertragen zu können. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit sind Politiker und Journalisten, die im Vorfeld jeder Papstwahl Reformen von der Kirche einfordern. Ein anderes ist die letztjährige Debatte über ein mögliches Verbot der Beschneidung muslimischer und jüdischer Jungen.

 

Der besorgte Katholik, der der aktuellen Entwicklung seiner Kirche entgegentreten möchte, kann sich demnach nicht nur auf diese beschränken, in der Hoffnung, entdecke die Kirche ihre Tradition wieder, so folge die Gesellschaft diesem Vorbild automatisch nach. Die Beschäftigung mit Politik und Kultur ist daher unerlässlich, auch wenn es oft mühselig und sogar aussichtslos erscheint, besonders bei dem Versuch, den Durchblick beim tagespolitischen Klein-klein oder dem verworrenen Parteiengeschäft zu gewinnen. In der Regel nehmen wir das ohnehin nur durch die verzerrende Brille der Massenmedien wahr.

 

Moderne – Zeitenwende im Abendland

Weiten wir nun aber unseren Blick und richten ihn auf unsere Zeit als Ganzes. Was alles aber ist diese Zeit und was genau macht sie aus? Das entscheidende Wort ist bereits gefallen: die Moderne. In dieser so bezeichneten Epoche leben wir, weitere Begriffe, wie beispielsweise „Postmoderne“, einmal außen vor gelassen.

 

Den Beginn der Moderne datiert man auf den Ausbruch der Französischen Revolution (1789). Deren Wegbereiter entstammen allerdings vormodernen Zeiten: im Geistesleben maßgeblich der Aufklärung, in der Politik besonders der Verkündigung der Bill of Rights in England (1689) und Virginia (1776) sowie der amerikanischen Verfassung (1787).

Die Revolution in Frankreich war die bis dato und vielleicht auch generell wichtigste Umsetzung der Ideologie, die die Moderne wohl am meisten geprägt hat und weiterhin prägt: der Liberalismus. Dieser ist eine hauptsächlich von der Aufklärung beeinflusste geistige Strömung, „in de[r] der Einzelne, die Vernunft, der Vertrag und der Markt zu Leitvorstellungen wurden, die nicht nur helfen sollten, die Gesellschaft, sondern auch den Staat neu zu ordnen“.

Erzbischof Marcel Lefebvre sah im Liberalismus unter anderem die „Unabhängigkeit des Einzelnen gegenüber jeder Gesellschaft, jeder natürlichen Autorität und Hierarchie“, konkret die „Unabhängigkeit des Menschen, der Familie, der Berufsstände, insbesondere des Staates im Hinblick auf Gott, auf Jesus Christus, auf die Kirche“.

Die Französische Revolution brachte radikale Umwälzungen auf politischer und staatlicher Ebene mit sich, die zunächst jedoch nicht allzu lange währten. Mit kurzzeitiger Unterbrechung regierte Napoleon Bonaparte (1804–1815) und anschließend gelang den Bourbonen die Restauration ihrer Herrschaft, die im Zuge der Julirevolution (1830) dann allerdings endgültig zusammenbrach. Die revolutionären Ideen hatten also bis dahin hauptsächlich die Strukturen befallen und stießen in vielen Herzen und Köpfen noch auf heftigen Widerstand – und dies nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa. Als Beispiel sei die sogenannte Heilige Allianz (1815–1850) genannt, die von den Monarchen Russlands, Preußens und Österreichs ins Leben gerufen wurde, um den europaweiten revolutionären Bestrebungen entgegenzutreten.

So, wie wir die Moderne heute kennen und als Normalität ansehen, manifestierte sie sich erst im Zuge der Industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nahezu alle Lebensbereiche durchdrang und alles, bis in den Alltag der Menschen hinein, langfristig veränderte. Durch diese Revolution aller Lebensbereiche entstand die materialistische und konsumorientierte Massengesellschaft und mit ihr, begünstigt durch die Massenarmut (Pauperismus), der Sozialismus in seinen verschiedenen Ausdrucksformen (Kommunismus, Sozialdemokratie). Von nun galten auch die von dem Soziologen „Max Weber analysierten Hauptmerkmale [der Moderne] – Technisierung, Rationalisierung, Säkularisierung, Individualisierung, Egalisierung, Rückbildung des primären, Zunahme des sekundären, dann des tertiären Sektors der Wirtschaft“.

Zusammenfassend kann die Moderne als ein radikaler Bruch mit den Traditionen und über Jahrhunderte entstandenen Formen des Zusammenlebens angesehen werden. Dies ist nicht einmal eine von Gegnern der Moderne stammende Aussage, denn schließlich wird im Allgemeinen dieser Bruch als eine positive, weil vermeintlich befreiende Wende angesehen.

Die katholische Kirche blieb während dieser politischen und sozialen Umwälzungen jedoch nicht untätig. Sie verurteilte diejenigen Inhalte der sich nun verbreitenden revolutionären Ideologien, die der katholischen Lehre widersprachen, z. B. in der Enzyklika Mirari vos (1832) von Papst Gregor XVI.

Sie versuchte außerdem konstruktiv zu agieren und Alternativen bezüglich der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen anzubieten. In diesem Zusammenhang stehen besonders die sogenannten Sozialenzykliken wie Rerum novarum (1891) von Papst Leo XIII. oder Quadradgesimo anno (1931) von Papst Pius XI.

„Reaktion“ – Widerstand gegen die Moderne

Aber nicht nur von kirchlicher Seite regte sich Widerstand gegen die Auswüchse der Moderne. Die größte Gegenbewegung bezeichnet man mit dem Begriff „Reaktion“ oder vielmehr mit dem dazugehörigen Adjektiv „reaktionär“. Ähnliche Begriffe sind „Konterrevolution“, „Restauration“ oder „Gegenaufklärung“.

Zunächst verstand man darunter die aktiven Gegner der Französischen Revolution bzw. im 19. Jahrhundert die Verteidiger der Monarchie und der katholischen Kirche gegenüber den revolutionären Idealen und Bestrebungen. Im Laufe des 20. und 21. Jahrhunderts weitete sich „reaktionär“ schließlich zum Sammelbegriff für alle Gegner der Moderne und des liberalen Fortschritts- und Gleichheitsgedankens aus.

Das Thema ist unter dem entsprechenden Begriff wenig bis gar nicht wissenschaftlich erfasst, was zum einen damit zusammenhängt, dass die „Reaktion“ von einer großen Bandbreite und somit nur schwer fassbar ist. Zum anderen entspricht das „Reaktionäre“ nicht dem Zeitgeist und der politischen Doktrin des Staates, der Medien und des akademischen Betriebes.

Eine allgemeingültige Definition der „Reaktion“ existiert somit nicht, ebenso wenig ein Raster, in das man bestimmte Personen oder Bewegungen eintragen könnte, um festzustellen, ob sie tatsächlich reaktionär sind. Dies hängt auch immer von den jeweiligen Umständen ab.

 

In der Regel wird „reaktionär“ als Kampfbegriff des Gegners verwendet, ist also meist negativ konnotiert. Man spricht vom „Versuch, überholte gesellschaftliche Verhältnisse […] zu verteidigen“ und setzt es häufig mit „rückwärtsgewandt“, „ewiggestrig“ oder „spießig“ gleich. Ein Reaktionär möchte daher heutzutage kaum einer sein, und als solcher bezeichnet zu werden, ist gerade für in der Öffentlichkeit stehende Personen ein mediales Desaster. Es kommt einer Schädigung ihres Ansehens gleich, das trotz aller Distanzierungsversuche und Beteuerungen, man sei im Gegenteil sehr modern und fortschrittlich, nicht wenige Kratzer davontragen wird.

Gerade die Sprengkraft dieses Begriffes birgt allerdings für viele den Reiz, sich selbst so zu bezeichnen, und sei es nur, um damit zu irritieren und zu provozieren.

 

Zu Beginn der Moderne, also während oder unmittelbar nach der Französischen Revolution, war es in der Tat das Ziel der Reaktion, in den vorrevolutionären Zustand der Gesellschaft zurückzukehren, was in Frankreich zumindest ansatzweise in der bereits erwähnten Phase der Restauration gelang.

Je mehr der zeitliche Abstand zur Vormoderne jedoch wuchs und sich die Gesellschaft von den früher geltenden Idealen entfremdete, desto unrealistischer wurde der allzu bequeme Gedanke, einfach dort weiterzumachen, wo man aufgehört hatte, also vor 1789.

Der Reaktionär muss also die Gefahr abwenden, zum reinen Nostalgiker zu werden, und steht heute mehr denn je vor der schwierigen Aufgabe, tragfähige politische und gesellschaftliche Ordnungen für die Zukunft zu entwerfen.

Der Schriftsteller Botho Strauß bringt es auf den Punkt: „Der Reaktionär ist eben nicht der Aufhalter oder unverbesserliche Rückschrittler, zu dem ihn die politische Denunziation macht – er schreitet im Gegenteil voran, wenn es darum geht, etwas Vergessenes wieder in die Erinnerung zu bringen.“

De Bonald, Cortés und Dávila – drei Beispiele

Um die Kritik der (damaligen wie heutigen) Reaktion an der Moderne nachvollziehen zu können, ist zunächst die Lektüre der reaktionären Denker notwendig. Dadurch gewinnt der heutige Katholik einen völlig neuen Blick auf das politische Geschehen. Die reaktionären Gedankengänge bieten die Möglichkeit der Inspiration und der Orientierung für die eigenen Überlegungen zu einer katholischen Gesellschaft, einem katholischen Staat der Zukunft. Eine unerwartete, tatsächliche Alternative tut sich auf.

Ein einflussreicher Denker der Reaktion und durchaus nicht nur der grauen Theorie verhaftet war der Franzose Louis de Bonald (1754–1840). Die Revolution befürwortete der katholische Adelige zunächst, wandelte seine Einstellung jedoch, als er in den darauffolgenden Monaten die verheerenden Folgen dieses gewaltsamen Umsturzes erkannte. 1790 legte er sein Amt als Bürgermeister seiner Heimatstadt Millau nieder, das er seit 1785 bekleidet hatte, und verließ Frankreich 1791 in Richtung Heidelberg. 1797 kehrte er zurück, betätigte sich publizistisch und übernahm ab 1815 – nach Wiederherstellung der Herrschaft der Bourbonen – verschiedene politische Ämter. Diese verlor er allerdings mit dem erneuten Ausbruch der Revolution 1830, woraufhin er sich – das neue System ablehnend – bis zu seinem Lebensende auf die journalistische Tätigkeit und die Verwaltung seiner Ländereien beschränkte. De Bonald war mit einer Offizierstochter verheiratet und hatte gemeinsam mit ihr sieben Kinder. Einer der Söhne war Kardinal und Erzbischof von Lyon.

 

Für de Bonald waren die drei grundlegenden Elemente der Gesellschaft die Religion, der Staat und die Familie. Er beschäftigte sich unter anderem mit den Beziehungen, in denen diese Stützen zueinander stehen und stellte fest: „Die Familie besteht vor dem Staat und kann ohne Staat bestehen. Der Staat existiert nur durch die Familien und kann ohne sie nicht existieren; er hat nur das, was ihm […] alle Familien gegeben haben.“

Von Louis de Bonald beeinflusst war unter anderem der Spanier Juan Donoso Cortés (1809–1853). Dieser, ein Nachfahre des Konquistadoren Hernán Cortés, war anfänglich ebenfalls ein Anhänger der Liberalen und vertrat deren Partei als Abgeordneter im Parlament. 1847 bekehrte sich der Verfassungsrechtler jedoch zum katholischen Glauben, womit eine fundamentale Abkehr vom Liberalismus einherging. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits sieben Jahre lang Berater der spanischen Königinmutter Maria Christina und wurde ab 1848 Botschafter in Berlin und Paris. Sein wohl größtes Talent war das öffentliche Reden. Er warnte vor dem Niedergang des Abendlandes durch weitere Revolutionen und zeigte auf, dass, je mehr sich eine Gesellschaft säkularisiere, der Staat für sich umso mehr Macht und Präsenz beanspruche. Am Ende dieser Entwicklung stehe unvermeidbar die Tyrannei. 1851 veröffentlichte Cortés sein bis heute weitverbreitetes Hauptwerk „Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus“ und starb zwei Jahre später in Paris.

Die bittere Konsequenz der Moderne beschrieb er wie folgt: „Die europäische Gesellschaft stirbt. Ihre Extremitäten sind bereits kalt. Bald wird es auch ihr Herz sein. […] Sie stirbt, weil sie vergiftet worden ist. […] Sie stirbt, weil der Irrtum tötet und weil diese Gesellschaft auf Irrtümern aufgebaut ist. […] Es gibt keine Rettung für die Gesellschaft, weil wir aus unseren Kindern keine wahren Christen machen wollen und selbst keine wahren Christen sind. Weil der katholische Geist, der einzige, der Leben in sich trägt, nicht alles belebt, weder den Unterricht noch die Regierung, noch die Institutionen, noch die Gesetze, noch die Sitten. Es wäre ein gigantisches Unterfangen, das sehe ich nur zu klar, wollte man den derzeitigen Lauf dieser Dinge ändern.“

 

Eine kontroverse Figur und auch einer der wenigen, die sich selbst als reaktionär bezeichneten, war der Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila (1913–1994). Im Verhältnis zu den beiden oben genannten Personen war sein Leben wenig ereignisreich, er griff nie aktiv in das politische Geschehen ein. Zwischen dem sechsten und dem 23. Lebensjahr lebte er mit seinen Eltern in Paris und 1949 bereiste er mit seiner Ehefrau María Emilia Nieto, mit der er drei Kinder hatte, für sechs Monate nochmals Europa. Ansonsten hatte er Kolumbien nicht mehr verlassen. Er besaß eine Privatbibliothek von über 30.000 Bänden und seine ersten Publikationen erschienen als Privatdruck für seinen Freundes- und Bekanntenkreis. Dávila bevorzugte die Form von klaren und scharfen Aphorismen und der sogenannten Scholien, kurze Essays existieren allerdings auch.

Für Dávila war die Situation eindeutig: „Es gibt keine Dummheit, an die der moderne Mensch nicht imstande wäre, zu glauben, sofern er damit nur dem Glauben an Christus ausweicht.“ Auch er lehnte es ab, Utopien anzuhängen oder die Vergangenheit zu verklären: „Das Ideal des Reaktionärs ist keine paradiesische Gesellschaft. Es ist die Gesellschaft der Friedenszeiten in Alteuropa – vor der demographischen, industriellen und demokratischen Katastrophe.“ Im Gegenteil ist für ihn „der lautere Reaktionär […] kein Träumer von vergangenen Zeiten, sondern Jäger heiliger Schatten auf ewigen Hügeln“. Seine politischen Vorstellungen sind konkret: „Persönlich halte ich nur eine Welt für legitim, deren Herrschaft der Römische Papst und der Deutsche Kaiser auf symmetrischen Thronen ausüben.“

Weitere reaktionäre Köpfe sind zum Beispiel Edmund Burke, Joseph de Maistre, Clemens Fürst von Metternich, Alexis de Tocqueville, Léon Bloy, Gilbert Keith Chesterton oder Martin Mosebach. Allerdings ist diese Liste weder vollständig, noch kann es eine solche geben.

Um auch in kultureller und politischer Hinsicht außerhalb von Kategorien zu denken, die durch den aktuellen Zeitgeist vorgegeben sind, ist die kritische Beschäftigung mit den verschiedenen theoretischen Ansätzen dieser Reaktionäre ein möglicher, erster Schritt.

Wichtiger, jedoch auch wesentlich schwieriger ist der Übergang zur Praxis. Zwischen Wort und Tat liegen oftmals Welten, die auch die Reaktionäre durchschreiten mussten – und auch taten, trotz aller Verluste.