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Die Reformation
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Als Reformation wird im engeren Sinne eine Bewegung oder ein Prozess im 16. Jh. bezeichnet, der letztlich zur Zerstörung der Glaubenseinheit der abendländischen Christenheit und zur Entstehung zahlreicher von der katholischen Kirche getrennter religiöser Denominationen führte, die unter dem Begriff „Protestantismus“ zusammengefasst werden.
Geschichte
Angestoßen wurde die Reformation von dem Wittenberger Augustinermönch Martin Luther (1483–1546), der 1517 seine berühmten 95 Thesen zum Ablass verfasste. Diese Thesen wandten sich einerseits gegen zeitgenössische Missbräuche im Zusammenhang mit dem Ablass, enthielten aber andererseits Aussagen, die Luther der Häresie verdächtig machten. Das eingeleitete Verfahren gegen Luther und dessen Weigerung, seine Aussagen zu widerrufen, führten 1521 zu seiner Exkommunikation.
Im Zuge seiner Auseinandersetzungen mit Papst und Kaiser spitzten sich Luthers theologische Aussagen zu, welche schließlich zur Grundlage der Bewegung der Reformation wurden. Im Wesentlichen lassen sie sich in den sogenannten sola(„allein“)-Prinzipien fassen: allein der Glaube (unabhängig von guten Werken), allein die Heilige Schrift (ohne Konzilien und kirchliches Lehramt), allein die Gnade (ohne Vermittlung durch die Kirche). Hinzu kamen verschiedene Schriften Luthers in den 1520er-Jahren, in denen er sich gegen die überlieferte Sakramentenlehre wandte, das allgemeine Priestertum gegen das Weihepriestertum ausspielte und seine Rechtfertigungslehre (ohne gute Werke) ausführte.
Die Reaktionen auf Luther in dieser ersten Phase fielen unterschiedlich aus: Zunächst konnte Luther manche Unterstützung von Leuten gewinnen, die ein ernstes Interesse daran hatten, gegen Missstände in der Kirche vorzugehen und diese im Sinne einer Erneuerung zu reformieren. Je mehr jedoch deutlich wurde, dass sich Luther von der katholischen Lehre als solcher entfernte, gingen diese wieder auf Distanz, wie etwa der Humanist Erasmus von Rotterdam (1466/1469–1536). Andere, wie Karlstadt (Andreas Bodenstein, 1480– 1541), gingen früh eigene Wege und setzten sich damit sogar in Gegnerschaft zu Luther. jedenfalls entwickelte diese Bewegung, deren wesentliche Kennzeichen die genannten sola, insbesondere die Berufung auf die Heilige Schrift, darstellten, eine gewisse Dynamik, die zu einem Großteil noch wesentlich von Luther beeinflusst war, sich zum Teil aber auch in andere Richtungen aufspaltete. Besonders zu erwähnen ist hier die von Ulrich Zwingli (1484–1531) in der Schweiz angestoßene reformatorische Bewegung. Zwingli gab jedoch an, die sola-Prinzipien unabhängig von Luther für sich entdeckt zu haben.
Angesichts der zunehmenden Bedeutung der Fürsten, die sich für die Reformation engagierten, spricht man etwa ab dem Reichstag zu Speyer 1526 von der „Fürstenreformation“, die mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 gewissermaßen ihren Abschluss fand. Seitdem bestimmte der jeweilige Landesherr über die Religion seiner Untertanen, während den Gläubigen der jeweils anderen Bekenntnisse nur die Möglichkeit zur Auswanderung blieb. An dieser Situation änderte im Wesentlichen auch der Dreißigjährige Krieg (1618– 1648) nichts mehr und trotz gewisser Re-katholisierungserfolge im Zuge der sogenannten „Gegenreformation“ blieb die Spaltung der abendländischen Christenheit bestehen.
Neben der lutherischen Reformation entstanden im Laufe der Zeit zahlreiche andere reformatorische Richtungen und Bewegungen, die sich zum Teil untereinander scharf bekämpften. Die wichtigsten dürften die bereits genannte Bewegung Zwinglis sowie jene von Johannes Calvin (1509–1564) sein. Ebenfalls eine größere Bewegung bildeten jene Richtungen, die unter dem Begriff der „Täufer“ zusammengefasst werden, die aber keineswegs eine einheitliche Gruppe darstellten. Daneben entstanden zahlreiche Untergruppen und Zersplitterungen. Im weiteren Sinne lässt sich auch die anglikanische Kirche Englands unter die protestantischen Richtungen einordnen.
Große Bedeutung fand der Protestantismus in Nordamerika, wo sich zahlreiche aus Europa vertriebene und ausgewanderte Protestanten niedergelassen hatten.
Voraussetzungen
Die Voraussetzungen der Reformation sind vielfältig und reichen von scheinbar banalen Aspekten, wie etwa der Erfindung des Buchdrucks, der die schnelle Auflage und Verbreitung von Schriften ermöglichte, über den Einfluss der Humanisten mit ihren Reformforderungen, ihrer Auseinandersetzung mit den Urtexten, aber auch ihrer Kritik, bis hin zu den sozialen Ungerechtigkeiten, welche z.B. die Bauern der Reformation zutrieben. Sodann sind zu erwähnen die Reichsstädte mit ihren Autonomiebestrebungen und die Fürsten in ihrem Streben nach Selbstständigkeit und der Furcht vor einer Übermacht des Kaisers, welche auch sie der Reformation zuneigen ließen. Dies sind alles Punkte, die nicht die eigentliche Ursache für die Bewegung darstellen, die aber wesentliche Voraussetzungen bildeten, ohne welche sich die Reformation nicht hätte durchsetzen können.
Voraussetzungen religiöser Natur bildeten kirchliche Missstände der Zeit, wozu sittliche Verwahrlosung und Verweltlichung des Klerus, Ämterkauf (Simonie) und wirtschaftliche Verflechtungen gehören. Ferner sind zu nennen die oftmals unzureichende Ausbildung des Klerus und die papst- und romkritische Atmosphäre in dieser Zeit in Deutschland. Letztere hatte bereits bei den Humanisten eine gewisse Tradition, nährte sich aber auch aus den Erinnerungen an weniger ruhmvolle Episoden des Papsttums (Abendländisches Schisma, Exil der Päpste in Avignon, die anstößige Lebensweise eines Alexander VI.), welche das Ansehen des Papstes beschädigten, sowie aus wirtschaftlichen und politischen Spannungen zwischen dem Kaiser bzw. dem deutschen Reichsteil und Rom im Laufe der Zeit.
Schließlich ist der Nominalismus (von Wilhelm v. Ockham, ca. 1285–1347) zu nennen, der auch in Wittenberg gelehrt wurde. Er zeigte in mancherlei Hinsicht eine Affinität zu den späteren protestantischen Prinzipien; für Ockham war Gott etwa nur Gegenstand des Glaubens und konnte nicht philosophisch erkannt werden. Ganz entsprechend der nominalistischen Doktrin stand für Luther „der Glaube gegen die Vernunft, soweit die Vernunft nicht durch Gottes Geist erleuchtet ist“. Luthers Weg zum sola scriptura hat sich vermutlich hier schon vorbereitet. Wie groß die Rolle des Nominalismus als Anlass zur Reformation auch immer gewesen sein mag, auf alle Fälle prägte er das Denken Luthers und übte einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Ausprägung der protestantischen Doktrin aus.
Gewissermaßen als Vorläufer der lutherischen Bewegung gelten vor allem John Wyclif (1320–1384) und Johannes Hus (1369–1415).
Ursachen und Entwicklung
Luther war ein religiöser Skrupulant. Ob er darüber hinaus an Depressionen litt, wie manche Autoren annehmen, sei dahingestellt. Auf alle Fälle verzweifelte Luther in seiner frühen Zeit als Priester auf der Suche nach einem „gnädigen Gott“. Es scheint, dass die lutherische Rechtfertigungslehre der Versuch war, sich dieses Problems auf theologischer Ebene zu entledigen. Der wesentliche Kern dieser Lehre war die These einer Rechtfertigung des Sünders vor Gott allein durch den Glauben, ohne gute Werke. Diese These stand in klarem Widerspruch zur Lehre der Kirche und barg als solche bereits genügend Konfliktstoff. Die wichtigsten anderen Thesen entwickelten sich in diesem Kontext und aus den folgenden Auseinandersetzungen.
Die Ablehnung des Ablasses konnte sich bereits als Folge aus der Rechtfertigungslehre entwickeln. Hierauf folgte als Ergebnis der direkten Streitgespräche mit Cajetan (1518) und Eck (1519) die Ablehnung des kirchlichen Lehramtes als solches, dem Luther (vermutlich aus einer Art Selbstverteidigungssituation heraus) das Evangelium entgegenstellte.
Die anderen Reformatoren in der lutherischen Tradition nahmen dieses neue Prinzip sola scriptura als Leitprinzip auf, das fortan die Reformation prägen sollte und zu einem Bruch mit der Kirche führen musste. Den Städten und Fürsten kamen die protestantischen Lehren zur Durchsetzung politischer Interessen sehr gelegen. Hinzu trat für die Fürsten die Aussicht auf „Beute“ durch Säkularisation von Klöstern und Kircheneigentum. Die Reformation lieferte ihnen hierzu die religiöse Legitimation.
Die eigentliche Ursache der Reformation dürfte also in der lutherischen Rechtfertigungslehre und damit gewissermaßen in Luthers persönlicher Biografie zu suchen sein. In der Folge war es die neue Doktrin selbst, die an vielfältige Voraussetzungen anknüpfen oder sich diese zunutze machen konnte. Dabei wirkte sich die mangelnde Bildung vorteilhaft für sie aus, welche ein klares Verständnis dieser neuen Irrtümer verhinderte und dazu führte, dass ihnen in manchen Teilen kaum widersprochen wurde. Gewisse Missstände in der Kirche schienen wie eine Bestätigung und der Ruf nach Reform, den sich die Reformatoren auf die Fahnen geschrieben hatten, klang vernünftig; die Berufung auf das Evangelium war eingängig. Hinzu kam, dass Luther bei der Einführung der Reformation teilweise sehr vorsichtig vorging, sodass viele die Unterschiede nicht sofort wahrnahmen.
Inhalte
Die Reformatoren traten mit der Forderung nach Reform, d. h. nach Erneuerung der Kirche im Sinne des Evangeliums auf. Tatsächlich waren die wesentlichen Inhalte jedoch von den genannten sola bestimmt, insbesondere von der ausschließlichen Berufung auf die Heilige Schrift (ohne Berücksichtigung der mündlichen Überlieferung). Als weitere wesentliche Elemente der Bewegung gelten die Ablehnung des päpstlichen Primats, die Ablehnung der Siebenzahl der Sakramente und die Berufung auf die Freiheit des Gewissens.
Bewertung
1) Der Begriff „Reformation“
Bereits der Begriff (von lat. reformatio = „Erneuerung“, „Umgestaltung“) ist problematisch. In der Regel wird er nämlich im Sinne einer eigentlichen Erneuerung, und zwar einer Verbesserung des Vorhandenen oder Rückkehr zur eigentlichen Substanz oder Zielsetzung verstanden. Die Reformation stellte dagegen jedoch die eigentliche Substanz als solche infrage und ersetzte sie willkürlich durch die Heilige Schrift. Im Zentrum stand nicht die so notwendige Wiederherstellung der Sitten und des Glaubenslebens, die auch im Klerus zu wünschen übrig ließen, sondern eine Veränderung des Glaubens. In Wirklichkeit handelte es sich also nicht um eine Reform, sondern um eine Revolution, und zwar auf der ganzen Linie. Hinzu kommt, dass eine wirkliche Verbesserung des Sittenlebens auch faktisch gar nicht bewirkt worden ist. Kleriker in unehelichen Verhältnissen wurden nicht etwa zur Sittsamkeit gerufen; vielmehr fanden diese Verhältnisse in der Sanktionierung der Priesterehe durch die Reformatoren gleichsam ihre Legitimation. Angesichts der Klagen Luthers selbst über die sittlichen Verhältnisse in Wittenberg nach der frühen Reformation sowie anderer zeitgenössischer Klagen kann, auch wenn man von Luthers Einverständnis mit der Doppelehe Phillips von Hessen einmal absieht, von einer positiven Wirkung der Reformation als solcher auf die Sitten ohnehin nicht die Rede sein. Der Bauernkrieg und der Dreißigjährige Krieg trugen gewiss auch nicht dazu bei.
2) Wie sind die Missstände der Kirche in der damaligen Zeit zu bewerten?
Zu den Missständen in der Kirche der damaligen Zeit sind sittliche Verwahrlosung und Verweltlichung des Klerus, religiöse Unwissenheit bei Volk und Klerus sowie die zum Teil unheilvolle Rolle des Geldes zu zählen. Unter letzteren Punkt fallen Simonie (Ämterkauf) und Ablasshandel.
Dass es derartige Missstände in der damaligen Zeit gegeben hat, ist unbestritten. Es ist jedoch falsch, lokale oder nationale Missstände auf die Kirche in ihrer Gesamtheit zu übertragen. Zudem muss man sich hüten, sie als ein flächendeckendes Phänomen zu begreifen. Im Gebiet von Luthers Landesherrn gab es den Petersablass nicht einmal, an dem sich der Streit entzündete, da Friedrich von Sachsen seine Verkündigung verboten hatte. Und zur allgemeinen Situation der zeitgenössischen Frömmigkeit bemerkt der Lutherbiograf Kaufmann immerhin, dass das Bild der kirchlichen Frömmigkeit in Deutschland um 1500 „von krisenhaften Erscheinungen eines Desinteresses an der Kirche nichts erkennen“ lässt.
Überhaupt zeigte die Kirche dieser Zeit insgesamt betrachtet ein vielschichtiges Bild. Insbesondere in Spanien bot sich eine ganz andere Situation dar. Gerade hier wird auch deutlich, dass auch und gerade auf dem Boden der traditionellen kirchlichen Lehre segensreiche Reformbewegungen erwachsen können. Der Jesuitenorden etwa war keine einfache Reaktion auf die Reformation; der Beginn der ignatianischen Exerzitienpredigten hatte mit dieser jedenfalls nichts zu tun. Reinhard, der Entwickler des Konfessionalisierungskonzepts, gibt zu: „Möglicherweise war der Zustand der alten Kirche nicht nur in Spanien, sondern auch in Frankreich und Italien zum Zeitpunkt der Reformation doch besser, als die communis opinio der Forschung heute annimmt.“
3) Welche Rolle spielten die kirchlichen Missstände für die Reformation?
Welche Rolle die kirchlichen Missstände als Ursache der Reformation wirklich spielten, wird deutlich, wenn man den Ablassstreit und die sich daran anschließende Entwicklung näher betrachtet. Je nach Autor werden diese Missbräuche und der Ablasshandel sowie die finanziellen Verstrickungen des Bischofs Albrecht von Brandenburg und dessen Schuldentilgung über den kirchlichen Ablass usw. sehr ausführlich dargelegt. Wenn man indes die 95 Thesen liest, erkennt man, dass diese umfassenden Verstrickungen – von denen fraglich ist, inwieweit Luther überhaupt von ihnen wusste – in Wirklichkeit kaum eine Rolle spielten! Auch die Unterredung mit dem päpstlichen Legaten Cajetan 1518 zeigt, dass es nicht nur um Missstände ging. Denn zum eigentlichen Thema dieser Unterredung wurde die Frage nach dem Schatz der geistlichen Verdienste Christi und der Heiligen in kirchlicher Obhut, womit die Frage der päpstlichen Gewalt sehr eng verknüpft war. Dies hatte jedoch nichts mit zeitgenössischen kirchlichen Missständen zu tun, sondern es handelte sich um eine theologische Frage. Wäre es Luther nur um die Missbräuche gegangen, so hätte er hier einlenken können, was er jedoch nicht getan hat. Auch die nachfolgenden Thesen, die Ablehnung des kirchlichen Lehramtes sowie das sola-scriptura-Prinzip stehen in keinem notwendigen Zusammenhang mit den kirchlichen Missständen.
Die kirchlichen Missstände waren also nicht die eigentliche Ursache der Reformation, wenngleich sie für ihren Erfolg eine nicht unwesentliche Rolle spielten. Denn die antipäpstliche Polemik und Kirchenkritik erhielt hier ihre Nahrung und konnte vor allem in der Kampfrhetorik wirkungsvoll und verständlich für alle eingesetzt werden. Durch kirchliche Vertreter erlittenes Unrecht konnte ebenso vor den Karren der Reformation gespannt werden wie der Neid auf eine reiche Kirche. Letztlich stehen diese Aspekte jedoch nicht in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Reformation, sondern waren eher der fruchtbare Boden, auf dem die Reformation Erfolge verbuchen konnte.
Solche Voraussetzungen wirkten sich auch mit umgekehrten Vorzeichen begünstigend auf die Reformation aus: Nicht die mangelnde Bildung war Ursache der Reformation, sondern sie bewirkte, dass viele gerade deshalb für die Reformation eingenommen werden konnten, da sie deren Rhetorik nicht gewachsen waren.
Alles in allem hat Kaufmann zweifellos recht, wenn er feststellt: „Die Durchschlagskraft der Reformation läßt sich kaum aus einer offenkundigen inneren Krise der spätmittelalterlichen Kirche selbst ableiten.“
4) Kann eine Bewegung wie die der Reformation überhaupt durch Missstände legitimiert werden?
So oft die Reformation mit Missständen der damaligen Zeit verteidigt wird, muss unabhängig von der tatsächlichen Situation darauf hingewiesen werden, dass es grundsätzlich keine Rechtfertigung für eine Kirchenspaltung gibt und dass ein solches Verhalten auch nicht aus der Heiligen Schrift abgeleitet werden kann! Luther selbst legte noch 1519 dafür beredtes Zeugnis ab, als er im Galaterkommentar dieses Jahres schrieb:
„Folglich kann auch der Abfall der Böhmen von der römischen Kirche auf keine Weise entschuldigt und verteidigt werden, als ob er etwa nicht gottlos und allen Gesetzen Christi entgegen wäre; verstößt er doch gegen die Liebe, in der alle Gesetze gipfeln. Denn das, was die Böhmen vorbringen, sie seien aus Furcht vor Gott und ihrem Gewissen abgefallen, damit sie nicht unter bösen Priestern und Päpsten leben müßten – gerade das klagt sie am allermeisten an. Wenn nämlich die Päpste, Priester oder auch sonst irgend Menschen böse sind und du erglühtest in wahrer Liebe, dann würdest du nicht die Flucht ergreifen; du würdest vielmehr, und wärest du auch ‚am äußersten Meer‘ (Ps 139,9), herbeieilen, klagen, mahnen, rügen, überhaupt alles tun und der vorliegenden Lehre des Apostels folgend dir bewußt sein, daß du nicht die Vorteile, sondern die Lasten auf dich zu nehmen hast. Und so dürfte einleuchtend sein, daß es eitel Schein ist, wenn die Böhmen sich dieser Liebe rühmen, und daß es sich um ‚ein Licht‘ handelt, in ‚das sich der Engel Satans verstellt‘ (2 Kor 11,14)“.
Gewiss muss man sich vor den Wölfen im Schafspelz hüten, vor denen Christus selbst die mahnende Stimme erhoben hatte (Mt 7,15); doch wie es selbst unter den Aposteln einen Judas gegeben hat, so hat es auch unter den Nachfolgern der Apostel im Laufe der Geschichte immer wieder Judasse gegeben, aber niemals wird damit ein Heraustreten aus der Gemeinschaft jener Kirche gerechtfertigt, die Christus selbst auf das Fundament der Apostel und ihrer Nachfolger gegründet hat. Eine Trennung von der Kirche, welche die „Säule und Grundfeste der Wahrheit“ ist (1 Tim 3,15), muss wohl vor allem als ein Zeichen von Unglauben und Stolz betrachtet werden: Unglauben, weil man angesichts der Fehler mancher ihrer Vertreter nicht mehr an die grundsätzliche von Christus verbürgte Heiligkeit der Kirche glauben will; Stolz, weil man glaubt, außerhalb der von Christus gestifteten Heilsinstitution das Heil finden zu können.
Wie man sich bei krisenhaften Situationen verhalten muss, sagt Christus selbst, der angesichts der heuchlerischen Lebensweise der Pharisäer und Schriftgelehrten mahnte, sich nach ihren Worten, nicht aber nach ihren Taten zu richten (Mt 23,2 f.). Ferner legt die Heilige Schrift auch Zeugnis davon ab, dass die Obrigkeit auch in ihren Mängeln nicht ohne die eigentümliche Kraft des Amtes bleibt, die Gott ihr verliehen hat (Joh 11,51). Sodann bietet auch die Kirchengeschichte Beispiele für richtiges Verhalten in Krisensituationen, wie etwa das Beispiel des hl. Athanasius, der sogar vom Papst ungerechterweise exkommuniziert worden war, weil er der wahren Lehre in Wort und Tat die Treue hielt, sich aber nie von Papst und Kirche losgesagt hatte. Ein sehr aktuelles Beispiel ist schließlich Erzbischof Marcel Lefebvre (1905–1991), der sich trotz aller Angriffe, die er durch die kirchlichen Obrigkeiten erleiden musste, weil er sich standhaft zum wahren Glauben der katholischen Kirche bekannte, nie vom Papst und der Kirche losgesagt hat, obwohl er Papst und Bischöfen zur treuen Bewahrung von Glaube und Sakramenten in vielfacher Weise den Gehorsam verweigerte, gemäß dem Grundsatz der Heiligen Schrift: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29).
Eine andere Frage ist, inwieweit Luther einen Bruch überhaupt wollte. Faktisch hat er ihn herbeigeführt und vor allem auch in eklatanter Weise mit der bisherigen Überlieferung der Kirche gebrochen! Im Übrigen darf man nicht vergessen, dass dieser Bruch von den Protestanten bis heute aufrechterhalten wird. Er lässt sich also nicht damit beschönigen, dass man behauptet, Luther habe ihn nicht gewollt, denn die Möglichkeit der Umkehr und Rückkehr zur katholischen Kirche steht den Protestanten durchaus immer noch offen. Außerdem zeigen Luthers gegensätzliche Positionen zum Papsttum, dass er seinen eigenen Prinzipien nicht treu geblieben ist; seine antipäpstliche Polemik steigerte sich überdies im Laufe seines Lebens geradezu ins Unerträgliche und wurde so umfassend, grundsätzlich und hasserfüllt, dass von einer Gesinnung der Liebe und echter Sorge um die Kirche nicht mehr die Rede sein konnte.
Fazit:
Die Reformation lässt sich nicht als legitime Antwort auf Missstände in der Kirche deklarieren, was sie auch nicht sein konnte. Vielmehr war sie eine Revolution, der tatsächliche Missstände in materieller und struktureller Hinsicht einfach zuspielten. Zudem berechtigen Missstände unter Umständen zwar zur Kritik, aber nicht zum Bruch mit der Kirche. Dass echte Reformen auf der Grundlage des katholischen Glaubens und der Kirche möglich waren und sind, beweist u.a. der Jesuitenorden, dessen Ursprünge nichts mit der Reformation zu tun haben, der sich jedoch segensreich in den Dienst der katholischen Kirche stellte und vielfach verlorenes Terrain zurückerobern konnte.
Die Ideen und Prinzipien der Reformation (sola-Prinzipien) sowie ihre Folgerungen widersprechen sowohl der Vernunft wie auch der kirchlichen Tradition und nicht zuletzt der Heiligen Schrift selbst. Die Willkür dieser Prinzipien erweist diese als eine frühe Form von Ideologie, die ihre Nachahmer finden sollte.
Zu den unmittelbareren Folgen der Reformation gehören die Spaltung der Glaubenseinheit der abendländischen Christenheit (bis heute) und der Dreißigjährige Krieg. Die längerfristigen Folgen vermengen sich mit anderen Einflüssen, führten aber mitunter zur Herausbildung des Liberalismus und des Rationalismus sowie an der Verabsolutierung staatlicher Macht. Letztere ergab sich aus der Position der Fürsten, die Luther als „Notbischöfe“ legitimierte, die aber darüber hinaus spätestens seit dem Augsburger Religionsfrieden generell die Religion der Untertanen bestimmten und spezifische Mechanismen zu ihrer Durchsetzung anwandten.
Alles in allem hat die Reformation viel Unglück gebracht und nachhaltigen Schaden angerichtet. Scheinbar positive Aspekte, wie die Herausbildung des Liberalismus und des Rationalismus, kann man nur aus entsprechender ideologischer Perspektive als positive Entwicklung betrachten.
Die Bedeutung der Reformation in ihren langfristigen Wirkungen im Laufe der Geschichte
Die langfristigen Folgen der Reformation lassen sich einteilen in politische, philosophische und kirchengeschichtliche.
In politischer Hinsicht wirkte sich die Reformation im oben genannten Sinne in einer Überhöhung der staatlichen Autorität aus. Die auf die Reformation folgende Konfessionalisierung mit ihren diversen Mechanismen zur Durchsetzung der jeweiligen Doktrin in einem Territorium führte nicht nur zur religiösen Vereinheitlichung der Untertanen, sondern auch zu einer sozialen Disziplinierung, die sich im Laufe der Zeit verselbstständigte. In diesem Kontext ist wohl nicht nur der Absolutismus zu nennen, sondern in gewisser Weise auch der Nationalsozialismus. In dieser Staatsbezogenheit einerseits und in der stark nationalen Tendenz des deutschen Protestantismus sowie in dem eigenen ideologischen Grundcharakter dürfte der Hauptgrund für die Unterstützung der Nationalsozialisten durch die Protestanten gelegen haben, aus deren Reihen sich Hitlers Wählerschaft mehrheitlich rekrutierte.
Die weitreichendsten Folgen der Reformation dürften jedoch im Bereich der Philosophie zu suchen sein. Während sich die katholische Kirche seit Thomas von Aquin in die Tradition der realistischen Philosophie des Aristoteles stellte, vollzog der Protestantismus auch auf dieser Ebene einen Bruch. Die Vorgeschichte hierzu setzt bereits bei Wilhelm Ockham (1285–1350) an, der gewissermaßen einen Dualismus zwischen Verstand und Glauben begründete, der so weit ging, dass er die natürliche Erkennbarkeit Gottes leugnete. Luther selbst brach ohnehin mit der scholastischen Philosophie, wenn nicht gar mit der Philosophie überhaupt. Vor allem löste er radikal und umfassend die Heilige Schrift aus der Halterung der kirchlichen Tradition und der philosophischen Untermauerung, sodass sie zu einem nichtbegründbaren Axiom wurde. Die Idee des sola scriptura war somit die erste eigentliche Ideologie des Abendlandes. Zugleich legte sie den Todeskeim des Christentums, insofern ein nicht begründbares Axiom per se einer rationalistischen Kritik sofort zum Opfer fallen musste. Auch sieht man hier ein a priori aufscheinen, das als Prinzip jede auf Empirie gründende Philosophie aushebeln oder einen Dualismus zwischen Denken und Realität begründen musste. Nicht dass es eine unmittelbare Übertragung der lutherischen Idee auf die Philosophie gegeben hätte, welche direkt die Entwicklung zur modernen Philosophie eingeleitet hätte. Aber es ist klar, dass wenn ein solches Prinzip einmal anerkannt und akzeptiert war, wenn man es ernst nahm, es die Sicht auf die Welt verändern und der Subjektivität großen Raum geben musste. Im Namen der Religion wurden also eine Denkweise, ein Prinzip und eine Weltsicht transportiert, die nicht ohne Folgen für die Philosophie bleiben konnten. In der Tat zeigte sich in der Folge eine schrittweise Abkehr von den Prinzipien einer realistischen Philosophie, die über Aufklärung und Rationalismus, schließlich in die modernen Philosophien und Ideologien mündete.
Im Zuge jener zuletzt genannten Ideologien, aber auch der verschiedenen philosophischen Richtungen und des religiösen Liberalismus und Rationalismus verbanden sich protestantische Ideen auch mit katholischen Gedanken bzw. griffen Katholiken diese auf und versuchten sie in die katholische Theologie zu integrieren. Als wesentliche Strömungen sind hier der liberale Katholizismus und der Modernismus zu nennen. Beide haben spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in die Kirche Eingang gefunden, und insbesondere die Liturgiereform von 1969 zeigte, dass der Protestantismus selbst nach ein paar hundert Jahren noch in weitgreifender und zerstörerischer Weise Einfluss auf die katholische Kirche genommen hat.