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Die totale Emanzipation

Erschienen in:
DGW-2014.1-Wir-die-Jugend

Der moderne Individualismus und seine Zerstörung der natürlichen Ordnung

Manchmal ist man auch als Katholik fassungslos – spätestens, wenn man einmal den Argumenten einer Gender-Ideologin zu folgen versucht, warum Geschlechtsidentitäten nur Produkte einer generationenübergreifenden Nachahmung sein sollen. Man steht betroffen da und kann nicht begreifen, dass, nicht nur durch den Glauben, sondern auch durch alle Natur- und – redlich angewendeten – Geisteswissenschaften sowie durch die gesamte Menschheitsgeschichte verbürgte Wahrheiten plötzlich willkürlich umgestoßen und durch oftmals widerlegte Erfindungen ersetzt werden. Der Genderismus ist dabei nur eine Erscheinungsform eines alle Bodenhaftung verloren habenden und dem gesunden Menschenverstand feindlich gesinnten Geistes, der anstatt bekämpft, in allen Sparten der Gesellschaft durch bürokratische Zwangsmaßnahmen den Menschen als Wahrheit aufoktroyiert wird. Genau das führt uns aber leider zur einzig zutreffenden Diagnose des heutigen Zeitgeistes: Das Denken des modernen Menschen ist krank. Bei dieser Krankheit handelt es sich nicht etwa um ein irrationales und inkonsistentes Denken, sondern sie ist die Folge von völlig verkehrten Ausgangsprämissen, die – nur für sich und auf den ersten Blick betrachtet – gar nicht mal falsch oder glaubenswidrig scheinen. Ja, für den einen oder anderen können sie sogar attraktiv erscheinen. Letztendlich aber haben sie – auf die konkreten gesellschaftlichen Umstände konsequent angewandt – solche Absurditäten, wie beispielsweise den Genderismus, zur logischen Konsequenz.

Angesichts dieser für den gesunden Menschenverstand verstörend wirkenden Erscheinungen bringen viele – aus einer nachvollziehbaren Erklärungsnot heraus – als einzige Erklärung für die Degeneration des gesellschaftlichen Zustandes sagenumwobene Geheimgesellschaften ins Spiel, die die Lücke des nicht zu Verstehenden komplett ausfüllen sollen. Dass dieses moderne Denken massiv von interessierten Gruppen gefördert wird, steht außer Frage. Doch sind diese Erklärungsansätze – absolut und als alleinige Ursache aufgefasst – alles andere als der positiven Veränderung und der Wahrheit dienlich: nicht nur, dass sie sich hinsichtlich einer Besserung des Zustandes durch eigene politische Betätigung oftmals als krypto-fatalistisch und lähmend und deshalb zur Änderung des Status quo als schädlich erweisen; sie sind zudem in den meisten Fällen in ihren Quellen und Schlüssen einfach zu fragwürdig und abstrus.

Vielmehr ist es angebracht, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen und sich nicht mit oberflächlichen und allzu simplen Erklärungsmustern angesichts einer komplexen Wirklichkeit vor dem geistigen Gegner lächerlich zu machen. Das Phänomen des modernen Denkens muss mit all seinen verfaulten Früchten und seiner auflösenden Wirkung in seinen falschen Ideen erfasst werden. Aus dieser geistigen Betrachtungsweise, einer ideengeschichtlichen Rekonstruktion und einer dazutretenden adäquaten Analyse des gesellschaftsstrukturellen Nährbodens für diese zersetzenden Ideologien lassen sich andere und greifbarere Urheber des Zerfalls ausfindig machen und diese in ihrer Abbrucharbeit besser aufhalten. Es ist nicht mehr der unangreifbare Oligarch X, der in den Hinterzimmern irgend eines New Yorker Bankhauses den Schalter schlagartig auf „Zerstörung“ umlegt, sondern etwa der bekannte Hochschuldozent aus einer akademischen Schickeria, der in den Seminaren jedoch dahin zu bringen ist, seine pseudowissenschaftlichen Prämissen offenlegen zu müssen, der als potenzieller Gegner auftritt. Es ist an der Zeit, dem Defätismus, der aus den meisten verschwörungstheoretischen Deutungsansätzen resultiert, abzuschwören und sich einem Aktivismus im Kleinen zu öffnen. Als primäres Ziel würde dieser nicht die prompte Verbesserung der Lage der Nation proklamieren, sondern etwa die Aufklärungsarbeit in seinem näheren sozialen Umfeld bezwecken, etwa bei den Kommilitonen, Arbeitskollegen oder Familienmitgliedern, die Opfer der modernen Massenpropaganda geworden sind.

Im Nachfolgenden werde ich versuchen, diese Aufklärungsarbeit durch die Skizzierung des gesellschaftsphilosophischen Systems vorzubereiten, welches für den Zerfall der natürlichen Gesellschaftsordnung verantwortlich ist. Es ist der gesellschaftliche Individualismus, welcher schon seit Anbeginn der Philosophiegeschichte präsent ist, aber erst heutzutage seine ganze Zerstörungskraft offenbart und dessen Folge die Zerstörung sämtlicher natürlicher Ganzheiten ist.

Die Vernichtung der Ganzheiten

Die dunkle Zauberformel des Individualismus könnte folgendermaßen lauten: „Du bist aus dir allein du selbst“. Der Individualismus reißt die Person aus allen natürlichen und übernatürlichen Ganzheiten heraus und postuliert ein aus sich selbst herauszubildendes Ich, das autarke Individuum. Ganzheiten oder überindividuelle Entitäten, wie die Kirche, die Familie, der Staat und das Volk werden als soziale Konstrukte angesehen, die von durch sich selbst bestehenden Individuen aus unterschiedlichen Gründen geschaffen werden und nur durch die Wechselbeziehungen der Individuen untereinander entstehen. Den Ganzheiten wird jegliche Eigenständigkeit sowie eine bildende und tragende Funktion für den Einzelnen abgesprochen. Stattdessen werden sie, sobald sie als etwas Objektives aufgefasst werden – etwa als Stiftung und Einsetzung Gottes oder als biologisches Faktum –, als Hindernis für die totale Selbstentfaltung des Individuums betrachtet. Dieses sich selbst genügsame Individuum trachtet stattdessen danach, jegliches „Über- Ich“, sei es Gott, seien es die Naturgesetze, zu leugnen. An die Stelle des Schöpfers als „Über-Ich“ tritt dann als „Ich“ die Selbstvergötterung des Individuums.

Sehr vereinfacht gesagt besteht das Wesen des Individualismus in der Annahme, dass die Teile eines Ganzen das Ursprüngliche sind und die Ganzheiten lediglich durch ihre Wechselbeziehungen untereinander entstehen; dass also dem Ganzen nur ein abgeleitetes Sein und das wahre, letzte Sein immer ausschließlich den Individuen zukommt. Die Ganzheiten sind Produkte der Individuen, sie sind relative, zeit- und umweltbedingte Größen, sie sind Konstrukte. Ob nun die Religion, der Staat, das Volk oder neuerdings die Ehe und gar das Geschlecht – diese alle sind nach individualistischer Auffassung keine Naturgrößen, keine Konstanten einer natürlichen Ordnung, keine „Gedanken Gottes“, sondern im Laufe der Zeit von den Menschen aus unterschiedlichen Gründen hervorgebrachte Funktionseinrichtungen.

Was wir beim Individualismus vor uns haben, ist der Versuch der vollkommenen Emanzipation des Individuums von allen es bildenden Ganzheiten. Das Individuum soll soweit wie möglich als bedingungslose Entität angesehen werden, welche sich vollkommen frei definieren soll. Gemeinschaftsverbände wie die Kirche, den Staat und die Familie kann es dabei, dem Wortlaut nach, in einer individualistischen Gesellschaft trotzdem geben; nur haben sie dort keinen Charakter einer Ganzheit mehr, deren Sein objektiv und unabhängig von dem Willen seiner Glieder ist. Sie sind dann lediglich dazu da, diese Selbstentfaltung des Individuums stets voranzutreiben, indem sie dem Individuum die materiellen und geistigen Mittel zur Hand geben, seine Bedürfnisse zu befriedigen: Die Kirche soll den einzelnen Menschen nur mehr in seiner selbst erdachten und nach eigenem Gusto gelebten „Spiritualität“ bestärken; der Staat soll dafür sorgen, dass seine freien Entfaltungsmöglichkeiten nicht durch Dritte behindert werden; und die Familie dient als Statussymbol und Entspannungshort von der täglichen Arbeit.

Nachdem das Verständnis der Ganzheit „Staat“ mit dem Verkümmern des Glaubens an das Gottesgnadentum und dem daraus resultierenden Sturz aller Monarchien in der Praxis längst in die individualistische Sphäre gerückt worden ist, sehen sich zurzeit vor allem die natürlichen Ganzheiten der Familie und des Volkes den individualistischen Angriffen am stärksten ausgesetzt. Das Ziel hinter der Zerstörung der Ganzheiten ist die totale Emanzipation des Individuums bis hin zur absoluten Selbstdefinition.

Vom Staat bis zum Geschlecht: Die Geschichte der Zerstörung der natürlichen Ordnung

Natürlich gibt es den Individualismus schon so lange es die Philosophie gibt und so kannte auch die Antike etwa in den Denkschulen der Atomisten oder der Sophisten die Grundannahme des selbstgenügsamen Individuums. Weil aber das christliche Abendland diese Denkweise durch die Patristik und die Scholastik spätestens zu Beginn des Frühmittelalters zu einer philosophischen Randerscheinung machte und die Traditionslinie des europäischen Individualismus gebrochen war, lohnt sich ein näherer Blick vor allem auf die (früh-)neuzeitliche Revitalisierung des Individualismus, welcher ungebrochen bis in die heutigen Tage fortwirkt.

Als erste Ganzheit verlor der Staat seinen wesenhaften Charakter. Als Niccolò Machiavelli (1469–1527) die Politik nur aus dem Blickwinkel der Machttechnik bzw. Machterhaltung betrachtete und somit das ins Transzendente gerichtete Wesen des Staates unberücksichtigt ließ, war der Grundstein zur Destruktion des wahren Charakters des Staates gelegt und der Weg zum rein weltlichen Staat gebahnt. Nicht direkt in diese Geisteslinie einzuordnen, aber ebenso destruktiv für das ganzheitliche Wesen des Staates war die sogenannte Vertragstheorie von Thomas Hobbes (1588– 1679). Als erster systematischer Denker des Empirismus, welcher den gesellschaftlichen Individualismus, den erkenntnistheoretischen Sensualismus, den ontologischen Materialismus und den religiösen Skeptizismus als Grundbausteine hat, da in diesem Naturzustand einzig der persönliche Nutzen der Maßstab allen Handelns ist und somit jeder gewillt ist, diesen auch auf Kosten seines Nächsten herbeizuführen. Um diesen unsicheren Zustand zu beseitigen, erachtet es Hobbes für schicklicher, wenn das Individuum seine persönlichen Naturrechte – also alles tun zu dürfen, um seinen Nutzen zu vermehren – preisgibt, um sich durch freie Konvention mit anderen, mittels eines Vertragsverhältnisses, Ordnung, Recht und Sitte in einem so errichteten Staat zu verschaffen. Dass wir es hier bei dieser vollständigen Übergabe der persönlichen Rechte an den Staat mit der Vorstufe eines totalitären Staatsmodells zu tun haben, ist bei unserer Frage nach dem individualistischen Charakter des Staates eher zweitrangig. Von primärer Bedeutung ist hier die Tatsache, dass Hobbes den Staat als Produkt des Willens der Individuen und als Machtballung eines kollektiven Egoismus erscheinen lässt. Der Mensch ist dort Urheber und Macher des Staates. Der Staat geht nicht etwa, wie beim hl. Thomas von Aquin, auf ein Naturgesetz zurück und er ist keine göttliche Einrichtung. Der Staat ist stattdessen bloßer Ausdruck des menschlichen Willens, ist ein menschliches und soziales Konstrukt und somit auch in seinen Aktivitäten an nichts anderes gebunden als an ein individualistisches Zerrbild des Menschen. Auf diesem Gedanken beruhen sämtliche weiteren Vertragstheorien in der Philosophiegeschichte und alle demokratischen Legitimationen. Darin liegt auch der Umstand begründet, warum die so verstandene Demokratie und der Totalitarismus keinen Widerspruch bilden.

Auch das Volk und die Nation verlieren in einer individualistischen Auffassung ihr wahres Wesen als objektive ontische Größen, welche sich als eine „auf gemeinsamer Abstammung, Sprache, Kultur und Geschichte beruhende Lebensgemeinschaft“ darstellen. Das politische Hauptinstrumentarium zur physischen und geistigen Destruktion der Ganzheiten „Volk“ und „Nation“ finden individualistische Theoretiker in der Ideologie des Multikulturalismus: Wenn ein Gemeinwesen nicht mehr durch eine einheitliche, deutlich erkannte und geschichtlich gewachsene Kultur getragen wird; wenn Massenimmigration aus den verschiedensten und entlegensten Erdteilen das davor ethnisch größtenteils einheitliche Gemeinwesen überflutet und auf längere Sicht durchmischt, stirbt der durch ein geschichtlich gewachsenes Volk bestimmte und gebildete Mensch aus. Auf kultureller Ebene muss sich der betont multikulturelle Staat – um ethnische Konflikte zu vermeiden – auf die einzige Gemeinsamkeit der Angehörigen dieses multikulturellen Staates berufen, das heißt auf das abstrakte Menschsein ohne jegliche geschichtlich-kulturelle und völkische Bindung. Der Mensch wird somit auch hier durch die Politik nicht mehr als ein konkretes, durch die Kultur, Abstammung und Geschichte bestimmtes Wesen betrachtet und behandelt, sondern als ein allen überindividuellen Entitäten enthobenes Abstraktum.

In jüngster Zeit sorgt der Genderismus dafür, dass sogar das menschliche Geschlecht als natürliche Ganzheit in den Köpfen der Menschen ausgelöscht wird. So schreibt etwa Judith Butler, die geistige Wegbereiterin der Gender-Ideologie: „Es gibt keinen Grund, die menschlichen Körper in das männliche und weibliche Geschlecht aufzuteilen.“ Auch hier begegnen wir wieder dem Grundprinzip des Individualismus: Der Mensch wird als ein von der Natur völlig unbestimmtes, nur durch sich selbst definiertes Wesen betrachtet, das sich jeder Einordnung in eine natürliche Harmonie widersetzt. Auch das Geschlecht erscheint wie der Staat oder das Volk nur noch als menschliches Konstrukt, abhängig von historischen und kulturellen Kontexten. Ist jedoch erstmal das menschliche Geschlecht dekonstruiert, so wird damit auch die Ganzheit der natürlichen Ehe obsolet. Und so ist die Gender-Ideologie die bis dato traurigste Erscheinung und eigentlich unfassbare Krönung des gesellschaftlichen Individualismus. Auch wenn alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse gegen die Ergebnisse der Gender-Studies sprechen, so ist es den Gender-Theoretikern dennoch gelungen, „aus ihrer akademischen Nischendisziplin ein bürokratisches Großprojekt zu machen“.

Das wahre Wesen der Ganzheiten

Ferdinand Tönnies hat mit seiner soziologischen Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft als Reaktion auf die immer mehr atomisierte und damit individualistische Betrachtungsweise der natürlichen Ganzheiten das Grundgerüst für die beiden katholischen Gesellschaftsordnungen des Solidarismus und des Universalismus geliefert. Diese beiden Konzepte betrachten den Menschen nicht als ein völlig abstraktes und selbstgenügsames Individuum, sondern stets als Glied von natürlichen Ganzheiten. Dabei wird sowohl der Vollwert der menschlichen Persönlichkeit anerkannt als auch seine wesenhafte ganzheitliche Anlage berücksichtigt.

Der Solidarismus entstand um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert in Frankreich. Seine systematische Durchbildung erhielt er in Deutschland und Österreich durch die katholischen Sozialphilosophen Heinrich Pesch (1854–1926), Oswald von Nell-Breuning (1890–1991) und Johannes Messner (1891–1984). Der Solidarismus sieht einerseits die wesenhafte Gebundenheit des Einzelmenschen an natürliche Ganzheiten wie die Familie, das Volk oder den Staat. Diese Ganzheiten sind dem Einzelmenschen als Gliederungen sowohl seinshaft als auch werthaft übergeordnet, sodass die menschliche Person ihre Gebundenheit an diese auch anerkennt. Andererseits wird aber der Zweck der Gemeinschaften darin gesehen, die menschliche Persönlichkeit als ihr Einzelglied zu ihrer Vollendung und Wesenserfüllung her- anzuführen. Es gilt zwar der Spruch: „Gemeinwohl geht vor Eigenwohl“, nur stehen hier – aufgrund ihrer normativen und wahren Auffassung – Gemein- und Einzelwohl nicht im Widerspruch zueinander, wie etwa in kollektivistischen Systemen, sondern bedingen vielmehr einander. Der Mensch ist wesenhaft und natürlich, das heißt ohne sein eigenes Zutun, Glied einer Familie, eines Volkes und eines Staates. Familie, Volk und Staat erhalten dabei aber ihren Zweck und ihr Wesen aus einer transzendenten Ebene, von Gott, der sie als Ganzheiten einer natürlichen Ordnung gesetzt hat und demgemäß auch ihr Wesen bestimmt. Dieses Wesen besteht darin, den einzelnen Menschen zu seiner Wesenserfüllung zu führen.

Die zweite katholisch-sozialphilosophische Richtung, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem Individualismus entgegengetreten ist, ist der Universalismus. Sein Begründer war der österreichische Philosoph und Nationalökonom Othmar Spann (1878– 1950). Spanns Universalismus hat dabei nichts mit Gleichmacherei oder der völligen Negierung des Eigenen zugunsten eines Allgemeinen zu tun. Er ist lediglich gegen die – oben als individualistisch gekennzeichnete – Sichtweise gerichtet, dass der Einzelne aus sich selbst heraus ein Sein besitze und fertig sei, quasi als fensterlose Monade angesehen werde. Spanns idealistisch-kinetische Ganzheitslehre sah dagegen im sinnlichen und gedanklichen Sein einerseits Glieder von rein geistigen Ganzheiten, ein geschaffenes Sein, andererseits aber mittels eines anderen ausgegliederten Seins, welche beide zusammen eine sogenannte Gezweiung erzeugen, ein ausgliederndes Sein, ein schaffendes Sein. Dieses „Sein als Schaffen aus Geschaffenwerden“ hat als die oberste Quelle Gott, der als die schlechthin umfassende und allgemeine Ganzheit, als reines Schaffen, alles übrige Sein in sich auf vollkommenste Weise enthält. Auf dem Wege unablässiger Ausgliederung – wobei die Ganzheit nicht im Ausgegliederten untergeht – gehen aus ihr, in unabsehbarer Mannigfaltigkeit alle Ganzheiten niederer Ordnung oder Teilganzheiten hervor. Diese geistigen Teilganzheiten werden dabei organisatorisch als Stand verfestigt. Sie erhalten durch Ausgliederung ein aktuales Sein und bilden die gesellschaftstragenden Ganzheiten wie etwa die Berufsstände, verschiedene geistig-kulturelle Organisationen und die staatlich-politischen Stände. Der Weg vom objektiven zum subjektiven Geist, die Entzündung des Bewusstseins und geistigen Lebens des Einzelnen, geschieht dabei erst durch die Gezweiung, die geistige Auseinandersetzung mit einem anderen Sein, nämlich der Gemeinschaft; der Einzelne erhält sein Sein erst als Glied von geistigen Ganzheiten. Als Konsequenz für die Gesellschafts- und Staatslehre ergibt sich daraus: Der Einzelne kann nie ohne diese geistigen Ganzheiten existieren. Sowie er Sein hat, ist er immer Glied einer Ganzheit und sein Sein ist umso vollkommener, je mehr er an und in den objektiv gegebenen Ganzheiten geistigen Anteil nimmt. Dabei umgeht Spann sowohl den zeitgenössischen Totalitarismus – indem er die Ausdifferenzierungen auch innerhalb einer Ganzheit durch den Begriff der Gliederung als wesensnotwendig anerkennt – als auch den Individualismus, indem er dessen Prämisse vom autarken Einzelnen negiert.

Die Verhältnisbestimmung zwischen den Ganzheiten und ihren Gliedern hat nicht nur theoretische Bedeutung, sondern – wie wir gesehen haben – auch konkrete Auswirkungen auf das tägliche soziale Leben. Ohne die Prämisse vom autarken Individuum wären die oben dargelegten gesellschaftlichen Zersetzungsprozesse nicht möglich. Bevor man sich mit den gesellschaftlichen Strukturen auseinandersetzt, die den Nährboden dieser Ideologien bilden, ist es notwendig, die geistigen Grundprinzipien dieser Lehren zu kennen. Dadurch versetzt man sich einerseits in die Lage, dem omnipräsenten modernen Duktus mit all seinen falschen Implikationen nicht auf den Leim zu gehen. Andererseits ist man dadurch befähigt, von den konkreten Erscheinungs- formen dieser Philosophie im notwendigen Maße zu abstrahieren und so überhaupt erst den geistigen Kampf – und unser Kampf ist in erster Linie ein geistiger – beginnen zu können.