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Ein Brief an dich
Erschienen in:
Mit dem folgenden fingierten Brief, den ich an einen meiner Klassenkameraden richtete, möchte ich Dich, lieber KJB-Leser, so dringend um Gebet für eben denselben und für unsere ganze Klasse bitten, deren Situation ich Dir durch die Beschreibung eines kürzlich erfolgten Klassenfestes darzustellen versuche.
Jetzt bist du in Griechenland: auf der Suche nach der Enthüllung des Menschen. Du erhoffst dir von dieser Reise die Lösung deiner Probleme. „Ich will die Menschen ansprechen, mit ihnen zusammensein, sie anhören.“
Ich habe lange gesucht. Nirgends fand ich das letzte Geheimnis, wo ich sie suchte. „Die Menschen sollten wieder Jäger und Sammler werden, frei von jeder Maske, jeder Zivilisation. Heute erstickt der Mensch in der Materie, im Kapitalismus. Die Welt wird schrecklich enden. Jeder versteckt sich vor dem anderen. Niemand ist sich selbst, und dennoch kann der Mensch nur in der Vereinigung seines wahren Wesens mit demjenigen der anderen sein Glück finden.“ Erst dann wirst du Frieden finden, wenn du sie alle verloren hast. Du scheinst den Menschen zu suchen, doch ich glaube, es ist Gott, den du suchst, dessen Namen du noch nicht nennen willst. Zögerst du, ihn zu finden? Liegt es vielleicht in der menschlichen Natur, vor der Entscheidung zum Absoluten stehen zu bleiben, zu widerstehen? Vor meiner Bekehrung habe ich den Lockungen Gottes widerstanden, weil ich nicht bereit war, alles aufzugeben. Doch jener Widerstand war gleichsam der Bogen, durch dessen Anspannung der Pfeil der Sehnsucht umso näher zu Gott flog.
„Es muß eine überirdische, erhabenere Existenz geben, sonst ist unser Leben ein Betrug. Wir werden nach dem Tode weiterleben, ich weiß selbst nicht, weshalb ich dies weiß. Ich fordere es! Ich erblicke in allen Dingen eine wunderbare, alles umfassende Liebe. Ich kann mich unmöglich täuschen!“ Als du dies sagtest, lachte Cornelia, die neben dir saß, leise und mitleidig auf; wie eine Mutter, die über die Träumereien und Phantasievorstellungen ihrer Kinder lächeln muß. Sie war nicht glücklich. Ihr Lachen war voller Verachtung gegen ihren eigenen Idealismus in dir. Ich fürchtete, ihr kurzsichtiger Realismus könnte dich beeinflussen und verunsichern. Doch sie sprach kein Wort, und während du sie verzweifelt einer überirdischen Existenz versichern wolltest, schlief sie unter deinem schweren Arm ein.
Andere unserer Klasse sammelten sich um uns und hörten dir am Boden gekauert zu. Seltsam, wie du, ein „Sprachgestörter“, zu uns vom Sinn des Lebens sprachst, ohne je beim Sprechen anzustoßen. Du suchtest bei uns gleichwie die Bestätigung deiner Intuitionen zu finden. „Die Materie, alles Materielle ist nur Mittel zum Zweck. Ich glaube, unser irdisches Dasein ist lediglich eine Prüfung für das jenseitige Leben, mehr nicht. Es darf nicht sein, daß die menschliche Seele, ihr unendliches Lieben und Sehnen mit dem Tod der Materie vernichtet wird!“ Keiner widersprach dir. Keiner stimmte dir zu. Sie hätten dir gerne geholfen. Hugo fragte, ob er dir eine Tasse Kaffee bringen dürfe. Hansruedi räusperte sich, voller Achtung dir gegenüber. Claudia nickte nur immer mit dem Kopf. Sie war froh, daß deine Probleme nicht die ihrigen waren. „Ich war lange Zeit in einem Heim für Sprachgestörte. Dort befanden sich auch Geistiggestörte. Damals lernte ich die Grausamkeit des Bewußtseins kennen, ein halbwertiger Mensch zu sein. Wir galten als Anormale. Auch ich gehörte zur sogenannten Randgruppe der Gesellschaft. Noch heute gehöre ich zu diesen Menschen, denn ich habe mit ihnen gelebt. Ich kann sie nicht vergessen. Einst will ich ihnen helfen, doch bevor ich dies vermag, muß ich mir selbst helfen können. Es ist so schwer! Oh, ich habe Probleme, die mich erdrücken wollen. Manchmal möchte ich nur noch sterben, aber ich muß leben, meine Lebensaufgabe finden. Ich weiß, ich bin auf dem Weg zu ihr. Jene allgegenwärtige Liebe, die ich erblickte, es muß eine Liebe ohne Zeit, ohne Tod sein, nicht wahr?“
Ich nickte dir freudig zu, während du dich mit deinen müden, leidenden Augen nach mir umwandtest. Ja, es gibt diese Liebe! Dein Hunger nach ihr ist der beste Beweis für ihre Existenz. Ohne Nahrung können wir nicht leben. Damit wir uns nun ernähren, tragen wir von Natur aus ein Hungergefühl in uns. Letzteres nun ist wiederum da, weil es Nahrung gibt, derer wir bedürfen. Deinen Hungernach Gott kann dir niemand stillen außer Gott selbst. Auch sie, die dir zuhören, vermögen dir nicht zu helfen. Sie glauben nicht an eine lebendige, ewige Liebe.
Cornelia lachte wieder auf und schüttelte unwillig den Kopf: „Du bist zu idealistisch. Du fliehst vor der Wirklichkeit!“ Sie wollten dich nicht verstehen. Verwirrt über die Betroffenheit, die du bei ihnen auslöstest, saßen sie da. Doch man konnte auf ihren Gesichtern die Hoffnung auf Vergessen deiner Probleme, die die ihrigen zu werden drohten, ablesen. „Es ist schwer, die Sorgen der andern zu tragen! Aber wir müssen wieder lernen, sie zu tragen, für den Mitmenschen zu leiden. Wenn wir so weiterleben wie heute, maskiert und entmenschlicht, muß notwendigerweise ein Unglück geschehen. Die Welt wird zusammenbrechen!“ Bleich und düster ließest du den Kopf hängen. Eine Stille trat ein, in der niemand sprach, nichts sich bewegte außer deine Gestalt, die ganz unmerklich bebte. Ich drückte deine kalten, starren Hände, um dich zu bestätigen. Wie gut ist Gott, der dich so wunderbar ergriffen hat! In dir erblicke ich das Spiegelbild meiner eigenen Frage nach Gott, der mir so barmherzig seine Liebe als Antwort gab. Erschöpft blicktest du vor dich hin. Deine unaufhörlichen Worte waren verstummt, und die anderen starrten verloren zu Boden.
Ich glaube, wir alle boten damals ein seltenes, unwirklich anmutendes Bild. Keine Scherze, keine Neckereien waren mehr zu hören: Dinge, die gemeinhin unseren oberflächlichen Klassenzusammenhalt ausmachten. Was uns allen damals gemeinsam war, das war die innerste, unabänderliche Einsamkeit eines jeden einzelnen, das Bewußtsein derselben. Eine Einsamkeit, die nur Gott zu füllen vermag. Du sagst, du suchest den „verkrusteten“ Menschen zu entkrusten, sein Innerstes zu enthüllen. Wie meinst du dies? Seine letzte Einsamkeit wirst du nie durchdringen können. Dies ist nur Gott vorbehalten. Der Weg zur ewigen Liebe ist ein einsamer, steiler Weg. Auf ihm findest du kein letztes Verstehen, keine Vereinigung mit den Menschen.
„Weshalb ist der Mensch so wie er ist? Woher dieser stumpfsinnige Materialismus, Kapitalismus? Eine böse, feindliche Macht, die die Menschen voneinander entfernt.“ Keiner rührte sich. Cornelia lachte nicht mehr. Ihr Gesicht war müde und resigniert. „Ich will euch keinen Vortrag halten! Ach, ihr hört mir ja alle so ruhig und brav zu! Das will ich gar nicht. Ich möchte, daß ihr euch damit auseinandersetzt.“ Einige von euch lachten verlegen und suchten nach irgendwelchen nichtssagenden Worten. Dann herrschte wieder trostloses Schweigen. Jenes Totschweigen, von dem jede Freude, jede Zuversicht flieht, da nur Verwirrung und Ausweglosigkeit seine Antwort auf die Frage nach Gott ist. Wie anbetungswürdig ist doch unser Gott, der dir trotz der verwirrenden „Logik“ der modernen Philosophie und Theologie, die an unserem Gymnasium gelehrt werden, jenes leise Ahnen um die göttlichen Wahrheiten schenkte, deren Gewißheit des Glaubens du uns noch in jener Nacht abringen wolltest! Der Morgen war gekommen und mit ihm die Maske des Alltags. Deine Zuhörer entfernten sich allmählich. Aus der Küche hörte man ihr bekanntes Geplauder. Müde, in dich zusammengesunken, bliebst du sitzen, noch abwesend und fern von den morgendlichen Scherzen der anderen. Nie werde ich den Ausdruck deines Gesichtes vergessen, auf dem noch der aufwühlende Schmerz deines innersten Kampfes zu lesen war. „Morgen werde ich mich vor euch dessen schämen, was ich in dieser Nacht gesagt habe.“ Thomas von Kempen schrieb einmal folgenden Satz: Dem Gott helfen will, kann keines Menschen Verkehrtheit schaden.