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Romantische Paradigmen − Vom Sehnen, Suchen und Finden

Erschienen in:
DGW-2014.1-Wir-die-Jugend

„Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“

(Novalis in den „Blüthenstaub- Fragmenten“ von 1798) Was die Grundgedanken hinter diesem Aphorismus sein können, dem wird im Folgenden nachgegangen werden.

Suche nach dem Absoluten

Zunächst einmal sticht ins Auge die Feststellung „Wir suchen“. Menschen sind ständig auf der Suche nach etwas. Oftmals hat diese Suche gar keinen konkreten Inhalt, sondern ist vielmehr ein allgemeiner Zustand. Durch das Wort „Wir“ erhebt der Autor den Anspruch, den Prozess des Suchens allen Menschen zuzusprechen. Indem Novalis ausführt, dass der Mensch „überall das Unbedingte“ sucht, konkretisiert er dieses Suchen. Er richtet es nach etwas Bestimmten aus, nach dem „Unbedingten“. Was ist damit gemeint? Zunächst ist es ganz und gar richtig, diesen Begriff so zu verstehen, wie es am naheliegendsten erscheint, nämlich als das „Negieren von Bedingung“. Das „Unbedingte“ ist somit etwas, das „ohne Bedingung“ existiert. Es kann gleichsam als etwas „Absolutes“ und „Höchstes“ aufgefasst werden. Da der Mensch dieses „Absolute“ nun „überall“ zu suchen bestrebt ist, ist der Schluss zulässig, dass er diese Suche in alle Bereiche seines Lebens hineinträgt. Allen Handlungen ist somit der Vorgang des Suchens implizit. Eine wichtige Frage, die es zu klären gilt, ist die, ob jener Prozess des Suchens einen Zweck in sich selbst darstellt und ob er dem menschlichen Wesen immanent ist, oder er einem höheren Ziel verschrieben ist. Novalis selbst gibt zu dieser Interpretation einen interessanten Hinweis: „Der Mensch besteht in der Wahrheit – Gibt er die Wahrheit preis, so gibt er sich selbst preis.“ Und er endet: „Wer die Wahrheit verrät, verrät sich selbst“2. Es kann also davon ausgegangen werden, dass der Autor die allgemeine Fähigkeit des Menschen zur Wahrheit eindeutig bejaht. Bezogen auf das Suchen ist es somit legitim, davon zu sprechen, dass der Mensch nach dem Absoluten sucht.

Das Finden

Nachdem Novalis im ersten Abschnitt seines Gedankens das Suchen des Absoluten zu einer Grundtatsache menschlicher Existenz erhoben hat, ist es zunächst verwunderlich, dass er auf folgende Weise endet: „…und finden immer nur Dinge“. Dies mag im ersten Moment sehr widersprüchlich anmuten. Wurden im ersten Abschnitt hohe Erwartungen geschürt, so ist es hier doch eher wie eine Ernüchterung. Doch der Reihe nach: Nachdem im ersten Teil des Spruches das Augenmerk auf dem Vorgang des „Suchens“ lag, liegt er im zweiten Teil dann auf dem des „Findens“. Finden ist etwas, das auf das Suchen notwendigerweise folgt, es wird aber auch deutlich damit, dass keine ernsthafte Suche unbeantwortet bleibt. Im Übrigen sind die vorkommenden Worte wie „immer“, „nur“ oder „überall“ in ihrem Bedeutungszusammenhang sehr exklusiv. Diese Ausdrücke machen die Generalisierbarkeit und Allgemeingültigkeit des Gesagten deutlich. Nun zu den „Dingen“. Dinghaftigkeit ist seinem Wesen nach das Gegenteil der „Unbedingtheit“. Was hier zum Ausdruck

kommt, ist die Feststellung, dass das Unbedingte an sich zunächst nichts Greifbares ist. Ein Ding hat Anfang und Ende, eine bestimmte Größe und Aussehen. Der Mensch, das suchende Subjekt, bleibt unmittelbar seiner sinnlich wahrnehmbaren Umwelt verhaftet, die nun einmal aus „Dingen“ besteht. Dieser Faktizität kann er sich nicht entziehen.

Sehnsucht nach dem, was immer bleibt

Das Motiv der Sehnsucht gibt es wohl schon so lange, wie es Menschen gibt. Sie ist eine beständige Konstante des menschlichen Lebens. Was zeichnet sie aus? Sie ist wohl zunächst einmal ein Streben nach etwas, das nicht konkret da ist, aber als sehr wünschenswert erscheint. Es ist wohl keine Überzeichnung, wenn man konstatiert, dass im Aphorismus von Novalis nicht auch eine resignative Komponente ausmachbar wäre. Aus der Vorfreude des Suchens, der Sehnsucht, entwickelt sich durchaus ein Zustand, der dem der Enttäuschung nahe kommt, und zwar deshalb, weil mit irdischen Mitteln das „Unbedingte“ nicht vollständig erfassbar ist. Angesichts dessen ist den Romantikern ein immerwährender Drang eigen, nach dem Unbegreiflichen zu suchen, um es eines Tages zu schauen und zu besitzen. Die Sehnsucht ist die Grundstimmung der literarischen Romantik. Wohl nirgendwo wird die zentrale Thematik einer ganzen Epoche so auf den Punkt gebracht, wie von Novalis in seinem „Heinrich von Ofterdingen“: „Nicht die Schätze sind es, die ein so unaussprechliches Verlangen in mir geweckt haben, […], fern liegt mir alle Habsucht: aber die blaue Blume sehn ich mich zu erblicken.“3 Diese Sehnsucht intendiert geradezu ein Suchen, ein sich auf Reisen begeben nach dem, was immer war, ist und sein wird. Die „blaue Blume“ wird zum Synonym eines, so scheint es, schier unerreichbaren Ziels.

Schluss: Romantische Ironie

Der Ironie, besser gesagt der romantischen Ironie, kann man sich an dieser Stelle nicht versperren. Sie ist eine im eigentlichen Sinne selbstironische Haltung, die nicht dem heutigen Sprachgebrauch des Wortes Selbstironie zufolge zu verstehen ist, sondern mehr ironische Haltung den Wahrnehmungen gegenüber ist. Ist die Resignation darüber, „überall nur Dinge“ zu finden, eine echte? Oder liegt nicht in dem Anspruch der Romantiker selbst, „dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein“4 zu verleihen, ein von Anfang an illusorisches Unterfangen? Ja, es ist illusorisch, wenn man Texte ohne Kenntnis der philosophischen Hintergründe als gegeben hinnimmt. Und nein, es ist nicht illusorisch, wenn man bedenkt, dass die Romantiker mit großem Bewusstsein für die Realität „das Leben […] [nicht als] uns gegebener, sondern ein von uns gemachter Roman“5 sehen. Dazu kommt ihre unerschütterliche Gottessehnsucht, die sich dazu treibt, „überall zu finden, was man liebt.“6