Unsere Mediathek
Christliche Dekadenz des Abendlandes – Ein Essay¹
Erschienen in:

Kleine Einführung in das Christentum und seine gegenwärtige Krise
„Dekadenz“ – ein wahnsinnig unscharfer Begriff. Etymologisch leitet sich das Wort vom lateinischen cadere („sinken“ oder „fallen“) her. Aber was meint Verfall? Kann man überhaupt mit Sicherheit sagen, was „Verfall“ ist? Das Jammern über die Dekadenz der Gegenwart ist ein zeitübergreifendes Phänomen, seinerseits merkwürdig immun gegen den Niedergang, den es konstatiert. Aus Ägypten gibt es viertausend Jahre alte Papyri, in denen man zu seiner Überraschung lesen kann, dass die Jugend von „heute“ nichts mehr taugt. Das Lamentum über die Dekadenz der Jugend ist kein angenehmes Thema: Selbstgerechtigkeit und Denkfaulheit klingen darin wieder, und es ertönt aus dem Mund des vorchristlichen Geschichtsschreibers Sallust nicht anders als aus heutigen Leitartikeln und Bestsellern von Peter Hahne oder Martin Bueb.
Und doch muss man gerechterweise sagen: Das Ansinnen, die Gegenwart von der Vergangenheit her zu begreifen, dient dem Schutz vor einer vertanen Zukunft. Und dies hat auch die reinigende und befreiende Wirkung, die ich mit dem Schreiben dieses Essays beabsichtige. Um gleich vorwegzunehmen, worum es hier nicht geht: Es geht nicht um traditionelle europäische Dekadenztheorien, denen allen das geschichtsphilosophische Schema eines theologisch absehbaren Niedergangs zugrunde liegt, von der französischen Dekadenzfurcht des frühen 19. Jahrhunderts bis hin zu geschichtlichen Spekulationen zeitgenössischer Historiker.
Wie der Titel dieses Essays verrät, habe ich die Selbstliquidation und Degeneration des gegenwärtigen Christentums zum Thema gemacht. Diese werde ich ideengeschichtlich von Friedrich Nietzsche – dem großen Diagnostiker der Gegenwart – ableiten. Bekanntlich hat Nietzsche im Kontext seiner Kulturkritik den Begriff „décadence“ neu zu definieren versucht. Er verwendet dabei seine später eher kritisch gesehene Formel „Wille zur Macht“. Den Mangel an diesem „Willen zur Macht“ sah er als Anzeichen von psychologischer und physiologischer Dekadenz.
Diese Definition politisch auszulegen scheint mir sehr eitel, da so ja auch der Faschismus im Kern ein Kampf gegen die Dekadenz gewesen ist. Aber umso passender ist es, diesen Begriff auf die Agonie des Christentums zu übertragen, da sich dessen Verschwinden täglich vor unseren Augen zu bestätigen scheint. Demnach karikiert christliche Dekadenz die aus Angst, Schwäche und Unfähigkeit gespeiste Kampfesunlust, aus Scheu vor Anstrengungen und Zumutungen den hohen Preis der Bedeutungs- und Wirkungslosigkeit zu bezahlen.
Bevor wir in medias res gehen und uns der Dekadenz des Christentums widmen können, muss eine grundlegende Komponente der Gegenwart geklärt werden, deren Einfluss auf die Kirche nicht unerheblich gewesen ist. Ich meine den Liberalismus und sein strahlend glänzendes Aushängeschild der „Freiheit“, welches seit zweihundert Jahren einen sakrosankten Status genießt – inflationär im Gebrauch, aber von den wenigsten erfasst. Was ist eigentlich Freiheit? Im Sprachgebrauch der Öffentlichkeit ist mit „Freiheit“ die Freiheit zur Selbstbestimmung gemeint.
Wird die Freiheit aber als Willkürfreiheit und Beliebigkeit verstanden und werden alle Strukturen und Autoritäten, die dieser Beliebigkeit im Wege stehen, beseitigt, so Platon vor bald 2500 Jahren, dann sind zwar die Menschen äußerlich frei geworden, aber diese Freiheit ist leer. Diese Freiheit hat keine Substanz und nichts ist nach Platon für die Menschen auf Dauer unerträglicher als substanzlose Freiheit. Sie bewirkt über kurz oder lang den Umschlag in die Tyrannei. Freiheit impliziert eben nicht nur die Emanzipation von allem Vorgegebenem und von allen Bindungen, Freiheit ist auch nicht bloß Selbstbestimmung, sondern Freiheit meint, wie es die großen Philosophen Europas in der Neuzeit übermittelt haben, immer auch die Selbstbindung an ein geistiges Gesetz und höheres Ziel.
Alle Entwürfe liberaler politischer Philosophie gehen indes davon aus, dass der Liberalismus nur dann funktionieren kann, wenn es in dieser Welt keine mit Autorität ausgestattete Instanz gibt, die die Wahrheitsfrage – also die Frage nach dem Richtig oder Falsch – für alle verbindlich entscheiden kann. Das ist in der Tat eine der Kernthesen des Liberalismus, der dadurch aber eine qualitativ andere, ich würde sagen, eine libertär deformierte Gestalt annimmt, wenn er das Stellen der Wahrheitsfrage als solche ausschließt und davon ausgeht, dass es keine Wahrheit gibt, oder wenn es sie gäbe, wir sie nicht erkennen könnten.
Bei dieser Ausgangslage gibt es auch keinen Maßstab und keine Kriterien mehr, nach denen man zwischen verschiedenen Meinungen qualitativ unterscheiden könnte. Heutzutage sind alle Meinungen gleich gut und gleichberechtigt. Der Wahrheits- und Erkenntnischarakter einer Meinung kann nicht mehr beurteilt und entschieden werden. Diese Spätform des Liberalismus emanzipiert sich von der Wahrheitsfrage. Die liberale Kultur stellt die Wahrheitsfrage nicht mehr. Sie kann sie auch gar nicht mehr stellen. Allein schon das Stellen der Wahrheitsfrage, nicht einmal deren Beantwortung, würde diese Gesellschaft in ihrer Existenz bedrohen und sie selbst infrage stellen. Wahrheitsanspruch und liberale Ordnung erscheinen uns prinzipiell als unvereinbar.
Wir haben es hier mittlerweile mit einer Zivilisation zu tun, die gesellschaftspolitisch auf dem besten Wege ist, das absolute Recht der Selbstbestimmung und der individuellen Wertsetzung, das heißt, die uneingeschränkte Autonomie des Einzelnen zu etablieren. Und dabei rufen wir ständig nach Verantwortung. Die Christdemokraten sagen, wir sollen die Gesellschaft der verantworteten Freiheit sein, jeder soll Verantwortung übernehmen, auch für sich selbst. Aber was heißt Verantwortung? Für wen sind wir verantwortlich? Was sind die Folgen, wenn wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden? Wer zieht uns zur Verantwortung? Wir kennen doch nur die Verantwortung vor uns selbst und die ist grundsätzlich auch mit Barbarei zu vereinbaren, wie wir jeden Tag zum Beispiel in Abtreibungskliniken sehen können.
Natürlich ist die katholische Antwort auf diese Frage eine Zumutung für moderne Ohren: Wir werden alle vor dem Richterstuhl Jesu Christi erscheinen und es wird jeder empfangen, was er durch Tun und Unterlassen verdient hat. Wer wagt es, das den Menschen heute noch zu sagen? Aber diese Aussage ist die einzige wirkliche Antwort auf die Frage nach der Verbindlichkeit der Rede von Verantwortung. Eine freie Gesellschaft ist eine verantwortungsvolle Gesellschaft, heißt es immer wieder. „Verantwortung“ ist aber, genauso wie „Freiheit“ ein leeres Wort, wenn wir keine Antwort auf die Fragen geben, wem wir eigentlich verantwortlich sind und was die Folgen sind, wenn wir nicht verantwortlich sind.
Zweifelsfrei leben wir heute in einer „Nietzschekultur“ (Günther Rohrmoser). „Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthum geboren“, schrieb der Philosoph in der Schrift Ecce Homo. Nietzsches brillante Diagnose und Prognose des europäischen Nihilismus als Folge der Gottesfinsternis, des drohenden Absturzes der verunsicherten und geschwächten Psyche in Sinnverarmung und Werteverlust ist Realität geworden. Ich möchte einmal kurz zusammenfassen, was Nietzsche vorausgesehen hat:
Mit dem Stichwort „Gott ist tot“ wird oft die Vorstellung verbunden, dass Nietzsche den Tod Gottes beschworen oder herbeigewünscht habe. Das ist natürlich kleinkariert und wird Nietzsche nicht gerecht. „Gott ist tot“, meint, schlicht formuliert, dass der Glaube an Gott, dass die Idee Gottes ihre Macht über die Menschen – ihr Bewusstsein, ihr Sein und ihr Handeln – verloren hat. Der Glaube an Gott hat aufgehört, eine den Menschen in seinem geschichtlichen Handeln prägende und bestimmende Macht zu sein. Nietzsche nennt diesen Verlust der Macht und Wirksamkeit der Idee Gottes sowie des Glaubens an Gott ein ungeheures Ereignis. Damit habe die Menschheit das Heiligste und Mächtigste verloren, was sie bisher besessen habe.
Nietzsche hat vorausgesehen, was er den Nihilismus nannte. Nihilismus heißt, dass sich alle geschichtlichen Substanzen auflösen und dass damit auch das Christentum in eine Agonie verfällt. Nietzsche war wie keinem anderen bewusst, was der Verlust des durch das Christentum ermöglichten, begründeten und gestifteten geistigen und kulturellen Erbes für das Schicksal unserer Kultur bedeutet. Nietzsches Kernthese lautete: Wenn die Substanz vom Christentum weicht, wenn sie aufgelöst wird oder sich selber verflüchtigt, dann wird nichts übrig bleiben als ein leeres Gerede von Werten, als ein bisschen Moral in einer sozialdarwinistisch geprägten Welt.
Aufklärung und Liberalismus bedeuten das Ende der Metaphysik, und Nietzsche war davon überzeugt, dass nichts davon unberührt bleiben würde. Die heutige Krise der Spätmoderne hatte er bereits als Konsequenz des Endes der Metaphysik prognostiziert. Nietzsche hielt nämlich den allgemeinen Verfall für eine Konsequenz der Zerstörung der Metaphysik und damit für eine direkte Folge der Aufklärung. So hatte der Diagnostiker Nietzsche – wenn auch nicht als erster und einziger – das Ende des Christentums und den Tod Gottes angekündigt. Der Therapeut Nietzsche meinte daraufhin, er müsse sich den Dionysos-Gott erfinden, um einen Gott zu haben, der auch diejenigen Seiten der Realität religiös erfassbar und gegenwärtig mache, die in der Reduktion Gottes auf einen moralischen Gott ausgeblendet würden. Wir interessieren uns mehr für seine Problemstellung als für seine Therapie.
Leben wir schon im Nihilismus? Die permanente Berufung auf „Werte“ und „Wertkonservatismus“ (was für Werte möchten wir eigentlich konservieren?) stellt jedenfalls den Versuch dar, den Nihilismus zu kompensieren. Der „Nihilismus“ und die Einforderung der Werte sind nämlich aus Sicht Nietzsches kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Bei dem Ruf nach Werten verschwindet die gesamte geistig-kulturelle Substanz in ihrer konkreten Bestimmtheit hinter dem abstrakten Allgemeinbegriff „Wert“. Auffallend ist die Korrelation: Je lauter der Ruf nach Werten erschallt, umso schneller schreiten offenbar die Verfallsprozesse fort. Der Grund liegt darin, dass die inflationäre Rede über Werte mit einer merkwürdigen Folgenlosigkeit und praktischen Bedeutungslosigkeit einhergeht. An die Stelle der Übung früher hochgehaltener Tugenden ist ein unendliches Geschwätz über Werte getreten.
Nach Peter Hahne steuert unsere Gesellschaft insgesamt immer mehr auf etwas zu, was als Indiz einer Sucht angesehen wird: die Maßlosigkeit. Er bezeichnete die Gesellschaft als maßlos, weil sie „das Maß los“ sei. Sie hat Werte und Normen, Orientierungsmarken und Maßstäbe verloren, so seine Analyse der Gegenwart. Der Sinn des Lebens besteht dann nur noch darin, Spaß zu haben. Das ist purer Hedonismus und dessen derzeitige Herrschaft bedeutet, dass man sich mit dem Grundgefühl des Nihilismus abgefunden hat. Man akzeptiert, dass alle Traditionen, Autoritäten und überkommenen Werte in den Orkus der Geschichte wandern.
Die nihilistische Spaßgesellschaft bringt den von Nietzsche beschriebenen „letzten Menschen“ hervor, dem nur das Bemühen um Fun geblieben ist. Dieser „letzte Mensch“ war ihm – wie übrigens später auch Max Weber – eine Horrorvorstellung:
„Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten … Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme … Krank-werden und Misstrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert! Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm oder reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und Eine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus … Man ist klug und weiss Alles, was geschehn ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen. Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. ‚Wir haben das Glück erfunden‘ – sagen die letzten Menschen und blinzeln“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1883–1891).
Was ist der „letzte Mensch“? Es ist der Mensch, der nicht mehr transzendiert, der nicht mehr überschreitet, sondern der auf die in seiner Trieb- und Affektnatur liegenden Gelüste und Gefühlsregungen zurückfällt und sich damit begnügt, im Dienste ihrer Befriedigung zu existieren. Er kennt nichts mehr als – zugespitzt formuliert – Triebbefriedigung. Der „letzte Mensch“ hat nur noch ein „Lüstchen am Tage und ein Lüstchen in der Nacht“.
Die ins Pathologische kippende Zelebrierung der menschlichen Sexualität in der westlichen Welt ist – religiös beurteilt – reiner Baalskult. Der Mensch findet sich hier in seiner puren biologischen Animalität wieder und begnügt sich damit; er kann sich aus eigenem Antrieb nicht mehr zu einer höheren Form des Menschseins aufschwingen. Im Zeitalter des Nihilismus wollen die Menschen hier und jetzt glücklich sein und nicht auf eine Welt im Jenseits nach dem Tode vertröstet werden. Sie wollen die Verwirklichung ihres Glücks nicht von Bedingungen abhängig gemacht bekommen, die durch die Tradition oder andere Autoritäten gestellt werden.
Das Glücklichsein ist – zugegebenermaßen – ein in der christlichen Apologie gering geschätztes, aber dennoch zentrales Motiv. Wenn man die Glücksmöglichkeiten, die in diesem kurzen Leben und angesichts der Beschränktheiten dieser Welt vorhanden sind, nutzen will, dann muss man sich, so lautet die moderne These, von Kirche, Theologie und vom Christentum überhaupt befreien. Religion wird als ein Moment der Glücksverhinderung empfunden oder gar als ein Korsett betrachtet, welches das Gegenteil von Glück bewirkt. Deshalb hält man sich an Heinrich Heines Satz: „Wir überlassen den Himmel den Spatzen und begnügen uns mit dem Braten und mit den Schoten der Früchte, die wir auf dieser Erde vorfinden.“ Dabei behauptet dieser „letzte Mensch“, das Glück erfunden zu haben, in Wirklichkeit aber kann er nur noch „blinzeln“. Dieser Mensch kann das Licht nicht ertragen. Er macht die Augen zu und blinzelt, um sich der Lichteinwirkung (der Realität bzw. der Wahrheit) zu entziehen.
Denn dieser spätmoderne Mensch ist ein Mensch ohne Sünden- und Schuldbewusstsein, er lebt im Zustand der Gesetzlosigkeit und der moralischen Indifferenz. Jede institutionelle und geistige Autorität hat er ideologiekritisch infrage gestellt und demontiert. Es triumphiert jedoch nicht der angestrebte Individualismus, sondern der Konformismus der einander abwechselnden Moden. Die einstige „Sinngesellschaft“ wird durch die Spaßgesellschaft ersetzt. Ein Soziologe hat unsere Gesellschaft als eine Art „Zerstreuungsgesellschaft“ beschrieben. Ideen aller Art werden hier an die Öffentlichkeit herangetragen, und die Menschen suchen sich das aus, was ihnen gefällt. Beim Aneinanderreihen der Ideen ohne Rangordnung verlieren diese jedoch jeden Wert und werden zu Objekten des Konsums. Wenn man die Ideen derart miteinander konkurrieren lässt, endet dies in einem leeren, selbstgefälligen, intellektualistischen Geschwätz.
Derzeit werden keine substanziellen Ideen mehr angeboten, es herrscht eben inhaltliche Leere. Kierkegaard nannte diesen Zustand „diabolisch“, Thomas Mann sprach vom „großen Stumpfsinn“. Dennoch glaube ich, dass wir nur in einer Zwischenphase leben, die bald beendet sein wird. Diese Spaßgesellschaft wird vorübergehen. Der strahlende Sieg des Liberalismus ist eine Illusion, die nicht durch Bußpredigten aufgedeckt werden kann. Nur die Geschichte kann uns erziehen.
Demgegenüber steht allerdings auch eine der größten Erkenntnisse, derer sich die europäische Kultur rühmen darf: Nur durch Leiden lernt man, an der Leidensfähigkeit hängt die ganze Lernfähigkeit des Menschen. Ob die Menschen sich noch einmal aus ihrer Fun-Gesellschaft zur Wahrnehmung der Realität aufraffen können – die Wohlstandsgesellschaft kann nämlich ihre Versprechen nicht wirklich und auf Dauer einlösen –, hängt ja nur davon ab, ob sie rechtzeitig eine Leidenserfahrung machen, die nicht ihrer Vernichtung gleichkommt, sondern ihnen die Chance gibt, das aus diesem Leiden Gelernte praktisch zu verwerten und anzuwenden.
Wir haben ja nur die Wahl: Entweder wir setzen den Liquidationsvorgang aller geistigen und kulturellen Bestände fort und leben als „letzte Menschen“ vom Unterhaltungsund Zerstreuungsprogramm der Medien und Talkshows oder wir tun das, was Nietzsche uns verordnet hat: uns besinnen. Für viele ist die Sinnfrage – im Land der Dichter und Denker – nach wie vor der „Kurzschluss“ (Norbert Bolz) des Menschen. Spätestens aber mit „9/11“ (sprich: Nine-Eleven) steht zumindest für intelligentere Beobachter fest, dass die Religion im anbrechenden 21. Jahrhundert wieder eine entscheidende Rolle in Politik und Kultur spielen wird – und auf die unaufmerksamen Zeitgenossen kommt es ohnehin nicht an. Gott ist nicht mehr tot!
Die umfassende Bedeutung von Religion ist dabei den heutigen Westeuropäern zumeist etwas Fremdes, ihnen in ihrer Lebenswirklichkeit Unbekanntes, sofern sie nicht sogar als bedrohlich wahrgenommen wird. Der Gedanke an eine kraftvolle Religion wird daher entweder in eine negativ bewertete Vergangenheit (Stichwort: „finsteres Mittelalter“) oder in unsympathisch empfundene Weltgegenden (in den Nahen Osten oder den Bible Belt) verbannt. Und dennoch spüren auch die verkopften, längst atheistisch gewordenen westeuropäischen Wohlstandsbürger innerlich ihre Sehnsucht nach Spiritualität, dämmert es ihnen, dass der aufklärerische Versuch einer Welt ohne Transzendenz ein weltgeschichtlich einmaliger Fehlschuss gewesen ist und dass es in Zukunft ganz so diesseitig-spaßig nicht mehr zugehen wird. Wir beobachten eine neue Suche nach dem Grund des Seins.
Da der Islam für europäisch Sozialisierte unzumutbar und eine Reise nach Tibet teuer ist, erhält das seit mindestens 200 Jahren als intellektuell inakzeptabel hingestellte und für jede denkbare Unbill der abendländischen Geschichte verantwortlich gemachte Christentum neue Chancen. Wer auf der Suche nach letzten Gewissheiten ist, tut gut daran, sich dem Glauben zu nähern, der Europa und damit die ganze westliche Welt geistig begründet hat. Wer danach sucht, der wird allerdings ein Christentum in der Krise vorfinden. Das Christentum hat aufgehört, eine ernst zu nehmende Kraft der Bildung des öffentlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Bewusstseins unseres Volkes zu sein. Selbst die Wurzeln des Abendlandes werden infrage gestellt.
Der Grünen-Vorsitzende und Moslem Cem Özdemir legt die Karten offen auf den Tisch: Auf Anfrage eines Bundesbürgers, ob sich der Islam in die christlich-abendländische Kulturintegrieren lasse, gibt er offen zu: „Ich denke, dass die christlich-abendländische Kultur als solche nicht existiert.“ Ich frage mit Josef Pieper nach: Gibt es ein nichtchristliches Abendland? Bringen wir es zustande, „Abendland“ zu denken unter ausdrücklicher Absehung vom christlichen Gedanken oder denken wir gar ausdrücklich positiv an eine nichtchristliche „Kultur“? Die Frage ist reine Rhetorik.
Niemand hat das Antlitz dieser Erde mehr geprägt als Jesus Christus. Seine Geburt ist der Beginn unserer Jahreszählung. Das Symbol seines Sieges, das Kreuz, ist weltweit allgegenwärtig. Nicht nur der Papst führt sein Amt auf Jesus Christus zurück, nein, auch jeder Revolutionär, ja selbst humanistische Atheisten versuchen ihn als Urheber ihrer Ideen hinzustellen. Alle Kirchenkritik hat eines nicht vermocht: die Strahlkraft dieses Gottmenschen durch die Zeiten hindurch zu beeinträchtigen. Was hat es mit Jesus Christus auf sich? Wie konnte in seinem Namen eine Welt aufgebaut werden? Warum haben sich nahezu zwei Jahrtausende lang Menschen für ihn erniedrigen, quälen, töten lassen, haben Ehre, Hab und Gut und selbst ihr Blut hingegeben, um ihm zu huldigen? Warum war keine Institution so oft Gegenstand blinden Hasses wie seine Kirche – bis ins 20. Jahrhundert hinein, als etwa die spanische Republik jeden Bischof, dessen sie habhaft wurde, bestialisch ermordete?
Die Geschichte Jesu Christi ist die archaisch harte, brutale und schonungslose Geschichte eines Opfers. Nach der Lehre der Kirche liegt die Bestimmung des Menschen in der Gemeinschaft mit Gott, einem Zustand des vollkommenen Glücks. Gott hat die Menschen wegen der Ursünde von Adam und Eva aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen und in das harte, unvollkommene Leben geschickt. Die Menschen haben dabei weitere Schuld angehäuft. Diese Schuld steht zwischen ihnen und Gott.
Was meint Nietzsche, wenn er von „Dekadenz“ spricht? Er meint nichts anderes als das, was die Christen mit dem Begriff „Erbsünde“ belegt haben. Dekadenz bedeutet eine objektive Struktur der Verderbnis, die durch eigene Entschlüsse und Willensaufschwünge selber nicht überwindbar ist. Für Schopenhauer war die tiefste Erkenntnis, die die Menschheit dem Christentum zu verdanken hat, daher die Lehre von der Erbsünde. Es gibt demnach eine strukturell im irdischen Leben verankerte Verderbnis, eben die Erbsünde und ihre Folgen. Wenn Adorno von der „Schuldverfallenheit“ alles Lebendigen spricht, dann meint er auch nichts anderes.
Kann man aber die Dekadenz, wenn sie erst eingetreten ist, denn überhaupt überwinden? Nietzsche wusste hierauf keine realistische Antwort mehr. Die Kirche hilft hier weiter: Weil Gott gerecht ist, kann er die Schuld nicht einfach wegwischen. Weil er aber auch die Liebe ist, kann er sie selbst bezahlen. Und deshalb wurde er ein Mensch, und zwar der vollkommene Mensch: Jesus Christus.
Obwohl er keinerlei Anteil an der Schuld der Menschen hat, nahm er sie stellvertretend auf sich und ließ sich in einer blutigen Orgie der Gewalt töten: Er starb am Kreuz. In Jesu Tod am Kreuz bezahlte Gott die Schuld der Menschen. Nicht die Menschen opfern Gott etwas, um ihn gnädig zu stimmen, er selbst opferte sich blutig, um dadurch die Schuld der Menschen zu tilgen und ihnen den Weg zur Vollkommenheit in der ewigen Glückseligkeit wieder zu eröffnen. Gott wischt also unsere Fehler, unsere Bosheiten – sprechen wir es ruhig aus: unsere Sünden – nicht mit einer herablassenden Geste einfach weg, sondern er fordert Genugtuung, die er aber aus Liebe zu uns am Karfreitag selbst erbrachte. Er besiegte dadurch den Tod: Sein leeres Grab wie auch seine nachfolgenden Erscheinungen bei den Aposteln zeugten von seiner Auferstehung am Ostersonntag.
Mit dieser Opferung ist es aber nicht getan, sonst wären wir längst im Paradies, sondern mit ihr hat Gott den Weg gewiesen, auf dem die Menschen zu ihm in die ewige Glückseligkeit gelangen können. Es ist ein harter, beschwerlicher und enger Weg – kein Vergleich zum highway to hell. Dieser Weg führt ebenfalls über das Opfer, das Kreuz und die Hingabe durch die bedingungslose Unterordnung unter die göttliche Autorität, die gehorsame Annahme der Glaubenswahrheiten sowie den kindlichen Glauben, der befreit. Als ewig währende Heilsinstitution hat Gott zu diesem Zweck die heilige Kirche gegründet und ihr unter dem Papst als ihrem Oberhaupt die Hilfsmittel und die Macht an die Hand gegeben, ihre Glieder dieses Ziel erreichen zu lassen. Es handelt sich um einen Bund, der im Blut gegründet wurde, zwischen Gott und denjenigen, die ihm als Glieder der Kirche folgen.
Deshalb sind die Priester bestellt, die täglich zum Opferaltar emporsteigen, um in einem bis auf den Abendmahlssaal zurückreichenden Ritus in unblutiger Weise das Fleisch und das Blut Christi in den Gestalten des Brotes und des Weines ans Kreuz zu schlagen und damit das zentrale Opfergeschehen des Christentums immer wieder zu erneuern. Außerhalb dieses Blutsbundes, außerhalb seiner heiligen Kirche gibt es keine Erlösung, denn „in keinem andern [als Jesus Christus] ist das Heil“, verkündet der hl. Petrus, „denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem wir gerettet werden sollen“ (Apg 4,12).
Das ist die Wahrheit, die heute an erster Stelle neu bekräftigt werden muss angesichts des vom liberalen Geist durchtränkten Ökumenismus, der behauptet, dass es in allen Religionen Heilswerte gebe, die nur weiterentwickelt werden müssten.
Von dieser harten und radikalen Botschaft wird, wer heute auf der Suche nach dem Sinn des Seins eine katholische Kirche betritt, nichts mehr hören. Man wird ihm etwas von irdischer Gerechtigkeit erzählen, von fair gehandeltem Kaffee, von Schuldennachlass für die Dritte Welt und sozialen Projekten – kurzum: Die ganze miefige Welt diesseitigen Gutmenschentums wird dem Suchenden in der Kirche unserer Zeit entgegenschlagen. Der Humanismus der modernen Kirche ersetzt ihre Preisgabe der Themen „Kreuz“, „Gnade“ und „Erlösung“.
Die Theologie verhält sich heute eben auch „politisch korrekt“. Die modernen Theologen sind Resonanzkörper des herrschenden sozialliberalen Diskurses. Sie sprechen nicht mehr über Sünde, Tod und Auferstehung sowie den Glauben an den biblischen dreieinigen Gott, sondern nur noch über die Ausbreitung der Menschenrechte über die ganze Welt sowie vom Dialog der „Religionen“. Wenn man dem Urteil Nietzsches folgt, bedeutet ein solchermaßen zurechtgestutzter Glaube die „Euthanasie des Christentums“.
Ich kenne kaum einen Bischof der Amtskirche, der auf Nachfrage nicht sofort bekunden würde, dass ihm natürlich nichts ferner liege, als zu missionieren. Missionieren, das dürfen nach unserem politisch korrekten Verständnis alle anderen, nur die Christen nicht mehr. „Geht hin und lehret alle Völker!“ (Mt 28,19) wird als fundamentalistische Anmaßung gebrandmarkt. Wie können Christen es denn auch wagen, per Mission den eigenen partikularen – zumal historisch belasteten – Glauben ihren nach absolutem Glück strebenden Zeitgenossen „aufzuzwingen“? Es wird dabei aber immer vergessen, dass dieser Verzicht auf die Mission eine einseitig christliche Selbstaufgabe ist und dass man im Islam oder anderen Religionen nicht im Traum daran denken würde, auf die Ausbreitung des eigenen Glaubens zu verzichten.
„Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes. Das Christentum hat teilweise schon abgedankt. Es hat keine verpflichtende Sittenlehre, keine Dogmen mehr“, bringt es Peter Scholl-Latour auf den Punkt. Im Unterschied zum Christentum befindet sich der Islam weltweit im Aufbruch: Diese Religion findet einerseits zu ihren Wurzeln zurück und wendet sich von der Moderne ab, andererseits ringt sie um eine Synthese mit der Moderne.
Dass diese Kultur die ihr vom Westen nahegelegten, zum Teil auch aufoktroyierten Modelle der Modernisierung schroff zurückweist und ihre Zukunft im entschiedenen Rückgriff auf die religiösen Inspirationen und Ursprünge ihrer eigenen Geschichte gestaltet, ist wohl nachvollziehbar. Die Vermutung ist durchaus nicht von der Hand zu weisen, dass der Islam mit der Entwicklung einer neuen Militanz im Wettstreit mit den anderen universalistischen Religionen – einschließlich des Christentums – im neuen Jahrhundert bei Weitem am erfolgreichsten sein wird.
Wenn wir die Frage nach der christlichen Dekadenz stellen, dann müssen wir schmerzlich feststellen, dass die Gründe dieser Dekadenz in der Form, in der die Kirche sie sich zu eigen macht, im Zentrum der christlichen Theologie selber liegen. Es sind nicht eingeschleuste Agenten in der Kirche, die diese christliche Dekadenz herbeiführen. Es ist auch nicht der großmächtige Feind, der von außen auf diese Kirche einwirkt, sondern die Dekadenz kommt subversiv und umtriebig aus der Mitte der Kirche selbst. Denn welcher Feind des Christentums könnte seine Liquidierung überzeugender und vollständiger betreiben als solche Theologen, von denen schon Heinrich Heine wusste, dass sie dem Menschen Gott austreiben. Es gehört zu den Besonderheiten dieser liberalen Form der Entchristlichung, dass dieser Prozess sich mitten in Kirche und Theologie abspielt, dass also die Christen selber dazu beitragen, dass ihre Kirche als öffentliche, kulturell beachtete Autorität verschwindet.
In ihrer Anpassung an die Moderne säkularisiert sich die Kirche selbst und bleibt so nur noch in einer naiven Weise mit dem christlichen Glauben verbunden, ganz so, als stünde ihr die Liebe Gottes unverändert und unbegrenzt zur Verfügung, ganz egal, wie sie die Heilige Schrift auch auslegt und was sie predigt. Das augenfälligste Beispiel hierfür ist jenes von der Unzucht mit Gleichgeschlechtlichen, die vor dem Herrn ein Gräuel ist (vgl. Röm 1,27). Zwischen dieser Bibelstelle und dem Umgang mit ihr heute tut sich der große Abgrund auf, der ein traditionell verstandenes Christentum von allen modernen Lebensauffassungen und heute lieb gewordenen Gewohnheiten trennt. Die Kirche zuckt zusammen und hat nicht mehr den Mut, solch ein Pauluszitat in den Mund zu nehmen, bzw. den Willen, es zu interpretieren. Sie hat das von bestimmten Kreisen verhängte Diskussionsverbot übernommen und wird damit ihrem Auftrag nicht mehr gerecht. Wie konnte es dazu kommen?
Der entscheidende Wendepunkt im Leben der Kirche war das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). „Das Konzil ist das 1789 der Kirche“, erklärte damals Kardinal Suenens. Und was war die Revolution von 1789 denn ihrem Wesen nach? Naturalismus und Subjektivismus des Protestantismus in Gesetzesform gegossen und einer noch katholischen Gesellschaft aufgezwungen. Daher die Proklamation der Menschenrechte ohne Gott, daher die Verherrlichung der subjektiven Einzelmeinung auf Kosten der objektiven Wahrheit, daher die rechtliche Gleichstellung aller religiösen Glaubensvorstellungen, daher schließlich die Organisation der Gesellschaft ohne Gott, ohne Verbindung mit Jesus Christus. Diese monströse Ideologie nennt man Liberalismus (vgl. Marcel Lefebvre, „Sie haben Ihn entthront“, Einleitung).
Und was sagte der ehemalige Kardinal Ratzinger und jetzige Papst Benedikt XVI. dazu: „Die Aufgabe des Konzils ist es gewesen, sich die Werte von zweihundert Jahren liberaler Kultur anzueignen“. Den liberalen Katholiken ist dies gelungen. „Was wollen Sie denn“, erklärt der liberale Katholik, „man kann doch nicht ewig gegen die Ideen seiner Zeit sein, unaufhörlich gegen den Strom rudern, und so als rückschrittlich oder reaktionär gelten“. Man will keinen Antagonismus mehr zwischen der Kirche und dem laizistischen und gottlosen liberalen Geist.
In diesem Zusammenhang hat die Kirche eine neue Position zum Ökumenismus2 eingenommen: Man hat den Absolutheitsanspruch der katholischen Religion aufgegeben und betrachtet seither die anderen christlichen Bekenntnisse, ja selbst die nichtchristlichen Religionen, als mehr oder weniger gleichberechtigte Wege zu Gott und zur Erlangung des ewigen Heils. Es geht nicht mehr um die Bekehrung der anderen Religionen zur katholischen Kirche, sondern um ein gemeinsames Miteinander.
Man kann einwenden, dass wir doch heute in einer Zeit der religiösen Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses leben. Was ist also daran ungewöhnlich, wenn auch die katholische Kirche für die religiöse Gleichberechtigung arbeiten darf? Ungewöhnlich ist nur: Das, was auf dem Zweiten Vatikanum beschlossen und in der Folgezeit umgesetzt wurde, wäre noch vor wenigen Jahrzehnten völlig undenkbar gewesen! Die katholische Kirche besitzt einen Ausschließlichkeitsanspruch. Alle Päpste hielten an dem Rechtsanspruch der Kirche fest, die einzige Heilsinstitution zu sein: „Es gibt nämlich keinen anderen Weg, die Vereinigung aller Christen herbeizuführen, als den, die Rückkehr aller getrennten Brüder zur einen wahren Kirche Christi zu fördern, von der sie sich ja unseligerweise getrennt haben“ (Papst Pius XI., Mortalium animos, 6. Januar 1928).
Während des Konzils beschloss man, sich der Welt – also dem, was man damals dafür hielt – zu öffnen. Die Kirche wollte – wenn auch mit Verzögerung – das nachholen, was ihr die Gesellschaft vorgelebt hat. Man wollte nicht länger nur das Kreuz, dieses Symbol eines blutigen Opfers, predigen. So begann der geschichtlich einmalige Niedergang einer Institution, die man bis zu Papst Pius XII. noch richtig hassen konnte – sofern man ihr nicht anhing.
Denn um sich der Welt zu öffnen, bedurfte es auch einer neuen Theologie – einer dekadenten Theologie. Man degradierte sich selbst zu einer religiösen Interessengemeinschaft unter vielen. Die Kirche begann sich für die Religionsfreiheit auszusprechen und diese 1986 in Assisi dann auch zu demonstrieren. Dort demütigte sie sich selbst vor allen anderen Religionen, indem sie sich mit ihnen auf eine Stufe stellte – um einen hohen Preis: die Preisgabe ihrer eigenen Lehre. Jeder wirklich Gläubige hält nämlich seine Religion für die einzig wahre und setzt sie absolut. Wenn eine Religion damit beginnt, auf ihren Absolutheitsanspruch zu verzichten, werden deren Anhänger vielleicht humanitäre Weltbürger, aber sie haben letztlich keine Religion mehr. Wenn jemand wirklich an seinen Gott glaubt, dann kann er ihn nur für absolut und einzig halten, denn sonst glaubt er ja gar nicht an ihn.
Die von der Kirche propagierte Religionsfreiheit ist ferner aus drei Gründen irrational: Die Religionsfreiheit ist absurd, da es widersinnig ist, der Wahrheit und dem Irrtum die gleichen Rechte zuzubilligen. Sie ist gottlos, weil sie die Braut Christi auf eine Stufe mit den häretischen Sekten stellt und weil sie zum Atheismus des Staates führt. Und schließlich ist die Religionsfreiheit zu verurteilen, weil sie die Völker in die religiöse Gleichgültigkeit führt. Die Religion ist eben der Wahrheit und nicht der Mehrheit verpflichtet (vgl. Marcel Lefebvre, „Sie haben Ihn entthront“, Kap. I,10).
Aufschlussreich ist, dass sich im Klerus kaum jemand findet, der diesen eindeutigen Bruch mit der Tradition beanstandet. Die Folgen für die Kirche, für den Staat und für den Einzelnen sind verheerend.
Das Christentum ist heute, so wie es im Programm der Aufklärung angelegt war, bis zur letzten Konsequenz privatisiert. Ob ich also nun Christ bin oder nicht, ob ich einer Kirche angehöre oder nicht, ist von gleicher Relevanz wie die Entscheidung der Frage, einem Fußball- oder einem Taubenzüchterverein anzugehören. Damit ist das Christentum seiner öffentlichen Dimension beraubt und zu einer Frage der persönlichen Wertvorstellung und Entscheidung des Einzelnen geworden.
Was wir als Postmoderne erleben, also die Freisetzung des absoluten Rechts des Individuums auf innere Auflösung, Beliebigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber allem, was einmal „Substanz“ genannt wurde, aus der heraus das christliche Abendland geschichtlich gelebt hat, ist nur von Nietzsche her zu verstehen, wie ich eingangs zu erläutern versucht habe. Wir erleben ja nicht einen atheistisch begründeten Kampf gegen das Christentum, sondern die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber dem Christentum. Fast wäre man geneigt zu sagen: Was waren das noch für herrliche Zeiten, als es in Deutschland Atheisten gab, die sich kämpferisch mit dem Christentum auseinandergesetzt haben. Dostojewskij sagte, dass sich ein Atheist viel intensiver mit Gott beschäftigt als die Gottgläubigen, weil ihm fragwürdig und problematisch erscheint, was dem anderen ganz selbstverständlich ist.
Das Christentum erlebt – das können wir heute schon sagen – in unserer liberalen Gesellschaft keinen Vernichtungsfeldzug im großen Stil, wie während der Verfolgungen totalitärer Staaten, sondern es wird anonym und lautlos verschwinden und kaum jemand wird es bemerken. Die Entchristlichung des Volkes, auch der Institutionen, hat möglicherweise selbst während der Zeit des Nationalsozialismus nicht ein solches Ausmaß erreicht wie heute. Diejenigen, die noch in der Kirche sind, bleiben dort, weil sie behaupten, an Gott zu glauben. Wenn man sie jedoch nach den Inhalten ihres Glaubens fragt, wird man schnell feststellen, dass ihr Gottesverständnis mit der Personalität des christlichen Gottes in der Regel nichts zu tun hat. Diesen „Gottesglauben“ kann man in einem Satz zusammenfassen: Es gibt noch irgendetwas hinter dem, was wir sehen, etwas, das steuernd auf den Gang dieser Welt einwirkt.
Dies hat zur Folge, dass die Religion heute eine Angelegenheit von Individuen geworden ist, die zuerst ihre religiöse Bedürfnislage interpretieren und dann die gewünschte Religion auswählen. Die moderne katholische Kirche ist dabei, sich auf diese Lage einzustellen. Hier wird neuerdings gefragt, wie sich das Christentum am besten verkaufen lässt. Dabei wird die Bedürfnislage eruiert und die potenzielle Nachfrage abgeschätzt. Die katholische Religion ist nämlich nur noch ein „Label“ unter vielen, die auf dem Markt der spirituellen Möglichkeiten miteinander konkurrieren. Neben den Gläubigen ist längst der Religionskonsument getreten, der in die Kirche geht, um sich spirituell zu unterhalten. Auf dem Markt der Religionen dominiert die spirituelle Selbstbedienung, das „Do-it-yourself der Selbsterlösung“ (Norbert Bolz).
Je nach Stimmungslage ist es mal der Dalai Lama, mal Jesus, mal der Papst, mal der Marxismus oder Buddhismus, mal New Age oder die alte Bibel, die Gefallen findet. Man findet toll, was gerade in Mode ist. Ganz typisch ist auch ein Mix aus verschiedenen religiösen Bauelementen. Die Spiritualität der buddhistischen Mönche gefällt mir, die christliche Nächstenliebe auch, aber in meinem Privatleben spielt christliche Moral für mich keine Rolle – wir leben ja schließlich nicht mehr im Mittelalter!
So entsteht millionenfach das, was Karl Gabriel „Bastelreligion“ genannt hat. Und die hat durchaus noch Verwendung für christliche Versatzstücke wie Weihnachten, das als „unmittelbare Vereinigung des Göttlichen mit dem Kindlichen“ (Friedrich Schleiermacher) so ideal in den Seelenhaushalt des „letzten Menschen“ passt. Aber auch alle, die mehr erwarten als bloße Sentimentalität, werden heute konsumistisch bedient – etwa durch eine Wallfahrt, die die religiöse Pflichtreise in Tourismus aufhebt. Ein Komiker mit einschlägiger Erfahrung hat für die Religion des „letzten Menschen“ die nicht zu unterbietende Formel gefunden: „Ich bin dann mal weg“.
Auf staatlicher Ebene schließlich war die erste Folge der Religionsfreiheit die Laisierung, d. h. die Entchristlichung des Staates. In der Folge des Zweiten Vatikanums mussten die katholischen Staaten ihre Verfassung ändern. Dies geschah auf Drängen der Nuntien, oft gegen die Absicht des jeweiligen Staatschefs, wie z. B. in Kolumbien, wo der Staatspräsident die Verfassungsänderung nicht wollte. Paul VI. behandelte die katholischen Staatschefs oft beinahe, als wären sie Kirchenfeinde, wohingegen er die Kommunisten hofierte. Bei der Reform des italienischen Konkordats bezeichneten Casaroli und Johannes Paul II. die Trennung von Kirche und Staat als das „ideale Regime“.
Es war der Vatikan selbst, der unter Berufung auf das Zweite Vatikanische Konzil die Herrschaft Jesu Christi über die Staaten beendet hat. Man muss unwillkürlich an die Worte des Evangeliums denken: „Wir wollen nicht, dass dieser über uns herrsche“ (Lk 19,14), und: „Wir haben keinen anderen König als den Kaiser“ (Joh 19,15).
Aber vergessen wir nicht: Wenn wir unsere eigene Herkunftsreligion verabschieden oder ideologiekritisch auflösen, wird dieses Vakuum nicht leer bleiben! Dann dringen entweder säkulare Religionen oder Quasireligionen ein, wie es der Nationalsozialismus und der Kommunismus waren. Dieses Christentum, das sich selbst nun in der Deformation und Negation befindet, ist immer noch die geistige Grundlage von alldem, was die westeuropäischen Verfassungen bisher ausgemacht hat. Die Prinzipien des Rechtsstaates und des Sozialstaates leben von den Überresten des zwischenzeitlich privatisierten Christentums. Alle Werte, auf die sich dieser Staat beruft, sind nicht allein, aber entscheidend von christlicher Herkunft und Substanz. Der laute Ruf nach einer solidarischen Gesellschaft hat – wenn wir das christliche Bewusstsein weiter verlieren – keinerlei Bedeutung mehr.
Interessant ist übrigens, dass ausgerechnet einer der Gründerväter der neomarxistischen Frankfurter Schule, Max Horkheimer, kurz vor seinem Tod den nihilistischen Grundirrtum der 68er-Bewegung auf den Punkt brachte: „Politik ohne Theologie ist absurd. Alles was mit Moral und Menschlichkeit zusammenhängt, geht auf die biblische Botschaft zurück. Und die Rebellion der Jugend ist eine unbewusste Verzweiflung, hinter der die ungestillte religiöse Sehnsucht steht.“
Eine konkrete Frage stellt sich am Ende dieses Essays: Gibt es jenseits der Utopie angesichts der prognostizierten Untergangsprozesse, deren Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, aber keineswegs Gewissheit, ja keiner bestreiten kann, einen Grund zur Hoffnung? Gibt es Stabilisierungsmöglichkeiten über den kalkulierten Untergang hinaus und unabhängig von ihm? Gibt es also – christlich gesprochen – eine spes contra spem (eine „Hoffnung wider alle Vernunft und Erfahrung“)?
Ja! Der christliche Glaube ist nicht widerlegt. Die Kirche wird nie untergehen. Sie mag heute noch so sehr ein Werkzeug der libertären Ideologie geworden sein, sie kann nicht zerstört werden. Sie bleibt die Braut Christi, die allein seligmachende Arche zu allen Zeiten, das himmlische Jerusalem. „Du bist Petrus, das heißt Fels. Und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. Und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ (Mt 16,18).
Zum Glück ist Europa nur eine Provinz der katholischen Kirche. Unsere etwas provinziellen Gemüter können nur schwer nachvollziehen, was es heißt, in einer geschichtlich spannungsvollen Zeit wie der unseren für eine Weltkirche Verantwortung zu tragen. Der Papst stellt sich dieser Verantwortung. Die katholische Kirche ist eine Weltkirche. Selbst wenn das dekadent gewordene Westeuropa zurzeit seinen eigenen Gang zu gehen scheint, so wird sich Gott eben andere Völker und Kulturen sowie gesündere Glieder der Kirche als Werkzeuge suchen, mit deren Hilfe dann auch Europa wieder zu seiner Identität als christliches Abendland zurückfinden kann.
Wir können die Frage nach der Zukunft der christlichen Wahrheit und des christlichen Glaubens also mit einer gewissen Zuversicht beantworten, weil – Gott sei Dank – diese Zukunft nicht allein von den Menschen abhängig ist.
Die dramatische Herausforderung der modernen Welt an die Christen besteht darin, dem Freiheitspostulat gefolgt zu sein und diese Freiheit fast totalitär durchgesetzt zu haben, mindestens im moralischen und kulturellen Bereich, gleichzeitig aber auch neue Formen der Knechtschaft hervorgebracht zu haben, die ohne Beispiel in der Geschichte sind. Mir ist durchaus bewusst, dass die Bereitschaft, von einem libertär ausufernden Freiheitsverständnis zu einer ethisch gebundenen und in Verantwortung gelebten Freiheit zurückzukehren, nichts weniger als einen geistigen Umbruch und eine Umorientierung von fast revolutionärer Qualität darstellt.
Die geschichtliche Erfahrung hat aber gezeigt, dass sich der christliche Freiheitsbegriff – anders als im Liberalismus – nicht gegen das Allgemeinwohl und die Gemeinschaft richtet, sondern dass dieser Freiheitsgedanke auch immer den Gedanken des Dienstes, ja zuweilen sogar des Opfers mit einschließt. Darum stellt das Christentum den inneren Ausgleich zwischen Freiheit und Gemeinwohlverpflichtung her, an dem der Sozialismus und der Liberalismus immer gescheitert sind: der Sozialismus, indem er die Freiheit vernichtet hat, und der Liberalismus, indem er den Gemeinsinn zerstört hat. Aus diesem Grund ist das Christentum nicht nur eine traditionelle Gestalt, aus der heraus auch die moderne Kultur entstanden ist und bis heute lebt, sondern es ist auch die einzig wirklich tragfähige und zukunftsweisende Kraft.
Ich möchte mit einem Bild schließen, das bekannt sein dürfte: Beim Betreten einer leeren gotischen Kathedrale kommt schnell das Gefühl von Ergriffenheit und Ehrfurcht auf, das jeder kennt, der etwa im Urlaub als Tourist eine große Kirche besucht, wenn hinter ihm die schwere Tür ins Schloss fällt und er allein in dem halbdunklen, kühlen, gewaltigen Gotteshaus steht. In dieser Kathedrale befinden sich an den Seiten die vielen Altäre der Heiligen, ganz alte noch romanisch, einige gotisch; Renaissance und Barock machen sich in Umbauten bemerkbar. Man fühlt sich schnell heimisch, sicher. Und die vielen Heiligen scheinen freundlich, ja, als hätten sie lange auf Besuch gewartet. Und doch weisen sie alle nur auf den Einen hin. Wer diesen Aufbau schließlich erkennt, wer realisiert, dass diese große Kathedrale darauf angelegt wurde, den Weg vom Westportal zum Altar zu gehen, auf dem das Kreuz steht, welches den irdischen Weg abschließt und nach oben ablenkt, der muss sich entscheiden: Bin ich bereit für das Kreuz?
Der Wirtschaftsjournalist Johannes Gross hat einmal gesagt: „Wenn ich glaube, habe ich nichts zu verlieren; wenn ich nicht glaube, habe ich nichts zu erhoffen.“ Holen wir Gott zurück, aber nicht in den multireligiösen Eintopf, sondern in christlicher Eindeutigkeit. Alle Zeiten und alle Jahrhunderte gehören Jesus Christus: Ipsius sunt tempora et saecula – „Sein sind Zeit und Ewigkeit“, sagt uns die Osterliturgie.
Die gesamte Geschichte ist hingeordnet nur auf eine Person, die die Mitte der Geschichte ist: Jesus Christus, weil, wie der hl. Paulus offenbart:
„In ihm alle Dinge gegründet sind im Himmel und auf der Erde, die sichtbaren Dinge und die unsichtbaren, die Throne, die Herrschaften, die Fürstentümer, die Mächte, alles wurde durch ihn geschaffen und ihn ihm, und er selbst ist vor allem, und alle Dinge haben in ihm ihren Bestand. Er ist das Haupt des Leibes, der die Kirche ist, er, der der Urgrund ist […], so dass er in allem den Vorrang hat. Denn es hat Gott gefallen, in ihm die ganze Fülle wohnen zu lassen; durch ihn wollte er alles mit sich versöhnen, was auf Erden ist und was in den Himmeln ist, indem er Frieden stiftete durch sein Blut am Kreuz“ (Kol 1,17-21).
Christus ist also der Ausgangspunkt der Geschichte. Und die Geschichte hat nur ein einziges Gesetz: „Er muss herrschen“ (1 Kor 15,25). Wenn er herrscht, herrschen auch wahrer Fortschritt und Wohlstand – mehr als geistige Güter denn als materielle! Herrscht er nicht, so bedeutet das Dekadenz, Entartung und Sklaverei in all ihren Formen – kurz: Dann herrscht der böse Geist. Hoffen wir, dass man eines Tages sagen wird: Credo, ergo sum! – „Ich glaube, also bin ich“.
Anmerkungen:
1 Anmerkung zu Form und Methode: Der vorliegende Schriftwerk orientiert sich in seinem Aufbau an den von Theodor W. Adorno in seinen „Noten zur Literatur – der Essay als Form“ aufgestellten Bestimmungen zur Abfassung eines Essays. Adorno beschreibt den Essay als ein Medium, welches sich sein Ressort nicht vorschreiben oder sich in irgendeiner Form einengen ließe. Der Essay sei losgerissen von der Disziplin akademischer Unfreiheit und denke in Freiheit zusammen, was sich in dem frei gewählten Gegenstand zusammenfände. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, kritisiere der Essay. Er sei quasi die kritische Form des menschlichen Geistes par excellence. Der Essay müsse aber an einem ausgewählten oder auffallenden partiellen Zug dennoch die Totalität aufleuchten lassen.
Dem geläufigen Einwand gegen ihn, er sei stückhaft und zufällig, müsse widersprochen werden, so Adorno weiter, da dies in der immanenten Natur seines Wesens läge. Er denke in Brüchen, weil auch die Realität brüchig sei, und fände seine Einheit durch die Brüche hindurch, nicht aber, indem er sie glättete. Der Essay nimmt also antisystematische Impulse ins eigene Verfahren auf und führt Begriffe unmittelbar so ein, wie er sie empfängt. Präzisiert würden diese Begriffe, so Adorno, erst durch ihr Verhältnis zueinander im gesamten Kontext. In ihnen würde sich also kein Kontinuum der Operationen bilden. Der Gedanke schritte folglich nicht einsinnig fort, sondern die Momente würden sich „teppichhaft“ verflechten. Von der Dichte dieser Verflechtung – man könnte auch von Reziprozität sprechen – würde schließlich die Fruchtbarkeit von Gedanken abhängen.
2 Mit dem Begriff „Ökumenismus“ bezeichnete man katholischerseits ursprünglich nur die Bemühungen um die Rückführung der anderen christlichen Konfessionen zur katholischen Kirche (die sog. „Rückkehrökumene“). Heute versteht man darunter dagegen oft auch den interreligiösen Dialog mit dem Ziel, einen Minimalkonsens zwischen den Konfessionen und Religionen herbeizuführen.