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Die gotische Kirche
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„Von der Burg und Festung Gottes“ (Romanik) zum „Himmlischen Jerusalem“ (Gotik)
Ein ganz anderes Erscheinungsbild als die romanischen, massiven „Kirchenburgen“ des frühen Mittelalters zeigen im Hoch- und Spätmittelalter die sehr filigranen, gotischen Kirchen und Kathedralen.
Der gotische Kirchenbau war nach der Auffassung der damaligen Zeit mehr als nur Versammlungsort der Kirchenbesucher zur Teilnahme am hl. Messopfer und zum Anhören der Predigt; der gotische Kirchenbau ist im wörtlichen Sinne als Abbild – nicht nur als Symbol – des Himmels bzw. des „Himmlischen Jerusalems“ zu verstehen. Grundlagen der Gestaltung waren unter anderem die Apokalypse (Offenbarung) des hl. Johannes sowie das Buch Tobit aus dem Alten Testament (vgl. Himmlisches Jerusalem, Hl. Schrift und Symbolik, siehe DGW, Nr. 1/2010).
In der Tat ist die Gotik der erste Baustil, der jenseits der Alpen entstand. Der Ursprung der Gotik liegt in Frankreich, in der Île-de-France (Paris), der Picardie und der Champagne, ein Baustil, der sich allmählich von Westen nach Osten ausbreitete, ganz im Gegensatz zu seinem Vorgängerstil, der Romanik, die von Süden aus (Rom) in den Norden drang und Erbin des griechisch-römischen Baustils war.
Es war eine Zeit, in der auf allen Gebieten eine enorme Entwicklung und ein allgemeiner Aufschwung zu verzeichnen waren: in der Landwirtschaft (Dreifelderwirtschaft), im Handel, in der Bildung und den Wissenschaften sowie auch in der Architektur. In dieser Zeit entstanden aus dem Leben der Kirche heraus die ersten Universitäten in Bologna, Neapel, Paris usw., an denen bedeutende Persönlichkeiten unterrichteten. Auch kam es zu einer Zunahme der Bevölkerung. In dieser Zeit war Frankreich mit 20 Millionen Menschen das am dichtesten bevölkerte Land Europas. Infolgedessen blühten seine Städte auf. 1190 ließ König Philipp II. die Straßen von Paris pflastern, jede einzelne Zugangsstraße über sieben Meter breit. Es herrschte ein regelrechter „Bauboom“. Man wollte nicht mehr alles nur zweckmäßig, sondern auch schöner, eleganter und kultivierter haben.
Es erstaunt also nicht, dass die meist geistlichen Bauherren sich von der Hl. Schrift inspirieren ließen und danach strebten, die Kirchen und Kathedralen nach den dort zu findenden Angaben zu bauen bzw. die Hl. Schrift mehr und mehr in der Architektur des Kirchenbaus sprechen zu lassen.
Im Jahre 1137 leitete Abt Suger (1081–1151) den Bau der Abteikirche von Saint Denis (St. Dionysius, der erste Bischof von Paris wurde um 250 enthauptet), damals wenige Kilometer von Paris entfernt, ein. Er wollte nach Angaben der Hl. Schrift die Kirche als Abbild des Salomonischen Tempels erbauen, der wiederum als ein Abbild des Bundeszeltes gedeutet wurde, wie es Moses gemäß göttlichem Willen hatte errichten lassen. Wer durch das mächtige Tor von Saint Denis trat, der sollte meinen, er gehe zum wahren Licht, dorthin, wo Jesus selbst die Tür sei: „Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden“ (Joh 10,9).
Die 12 Pfeiler des Mittelschiffes erhoben sich stellvertretend für die 12 Apostel, die der Seitenschiffe für die Propheten. „Die Mauer der (Himmels-)Stadt hatte zwölf Grundsteine, auf diesen standen die Namen der zwölf Apostel des Lammes“ (Offb 21,14). – „Den Sieger will ich zur Säule im Tempel meines Gottes machen“ (Offb 3,12).
Die Gotik wäre allerdings nicht auf diese Weise entstanden und denkbar gewesen ohne die Eindrücke, welche die Kreuzfahrer aus dem Orient mitbrachten. War in der Romanik der Rundbogen das Kennzeichen des Stils, so wurde in der Gotik der Spitzbogen zum Erkennungsmerkmal. Allerdings gab es den Spitzbogen schon Jahrhunderte zuvor in der Architektur der Ägypter und Perser, ebenso die Blattverzierungen, das Maßwerk der Fenster und die Kreuzrippen im Gewölbe.
Über Norditalien, Venedig und über Sizilien drangen diese Kenntnisse nach Frankreich. Man zog Arbeiter aus vielen Ländern, sogar aus Ägypten und Arabien heran, um die eigenen Leute in der Baukunst auszubilden. Später übernahmen Mönche diese Aufgabe. Ab 1083 brachte Abt Hugo von Cluny im Bauhandwerk ausgebildete Mönche von Monte Cassino, dem Stammkloster der Benediktiner, nach Cluny und machte Kleeblattmotive und gebündelte Pfeiler in Cluny heimisch.
Abt Suger wandte sich an Künstler und Handwerker aus aller Welt, um Saint Denis, die Grablege der französischen Könige ausbauen zu lassen. Deshalb kann man die Kirche St. Denis als „Wiege der Gotik“ bezeichnen und als erste gotische Kirche ansehen.
Besonders erwähnenswert ist, dass vor allem Mönche des Zisterzienserordens den Stil der Gotik überall verbreiteten. 1150 besaß der Orden bereits ca. 350 Klöster. Im 13. Jh. kamen weitere 200 Klöster dazu. So wurde die Gotik überall heimisch gemacht. Die Zisterzienser hatten sehr schlichte und einfache gotische Kirchen, ohne jeden Schmuck und Farbe – man spricht daher auch von der „Zisterziensergotik“.
Erscheinung und Stil
Der Grundriss gotischer Kathedralen veränderte sich gegenüber dem romanischen kaum, nur der Chorraum wurde erweitert und durch einen einfachen oder doppelten Chorumgang mit angeschlossenem Kapellenkranz vergrößert. Im begehbaren Chorumgang kann man als Pilger Reliquienschreine und Gräber von allen Seiten betrachten und verehren (vgl. im Kölner Dom den Schrein der Heiligen Drei Könige).
Erscheinen uns die meterdicken Mauern und Wände der romanischen Kirchen und Dome festungsartig und sehr massiv (Massivbauweise), so sind die gotischen Mauern und Wände sehr dünn, aber dafür viel höher, himmelstrebender und feiner (Skelettbauweise). Die gotische Kirche strebt in die Höhe. Die hochragenden Wände werden dünner. Die großen Flächen der Wände werden in der Gotik durch lange, hohe und bunt leuchtende Glasfenster ersetzt. Der Wechsel der Tageszeiten lässt die verschiedenen Bauglieder aufleuchten oder taucht sie in ein geheimnisvolles Dämmerlicht. Die Fenster scheinen wie aus einer leuchtenden göttlichen Lichtquelle zu strahlen. Das Licht, das den Kirchenraum verwandelt, scheint, als sei es überirdischen Ursprungs („aus Saphir und Smaragd und aus Edelsteinen ringsum seine Mauern“ (Tob 13,17).
Zur Herstellung der herrlichen bunten Glasfenster brauchte man 1/3 reinen Flusssand, 1/3 Buchenholzasche und 1/3 verkohltes Farnkraut sowie ein wenig Kochsalz für den Schmelzprozess. Das ergab Glas mit hellgrüner Färbung. Verlängerte man den Schmelzvorgang, entstand rosa- bis purpurfarbenes Glas. Wollte man weitere Farben erzeugen, mischte man Metalloxide bei: Für Gelb nahm man Eisen, für Rot Kupfer, und um das herrliche Blau zu erhalten, benötigte man allerdings das sehr seltene teure und kostbare Kobalt.
Weil die Wände sehr dünn waren, mussten sie von außen durch sogenannte Strebepfeiler und Strebebögen gestützt werden. Man ließ alles Unnötige weg und es blieb nur noch das übrig, was für die Statik unbedingt nötig war, um optisch einen leichten, fast „schwebenden“ Zustand zu erreichen.
Das Rippengewölbe mit dem in der Mitte sitzenden Schlussstein ersetzte nun das ältere romanische Kreuzgratgewölbe. In der Hoch- und Spätgotik wurden die Gewölbe immer prächtiger: So wurden sie in manchen Kirchen mit vielen Kreuzrippen überzogen, die zusammen einen Stern bildeten (Sterngewölbe, vgl. z. B. in der Lorenzkirche in Nürnberg, in der Frauenkirche in München oder im Ulmer Münster). Oder die Gewölbe wurden mit einem Fischernetz verziert (Netzgewölbe), was man am ehesten in Hallenkirchen findet, in denen die Seitenschiffe gleich hoch wie das Mittelschiff sind (z. B. in der Heiligkreuzkirche in Schwäbisch Gmünd). Auch gibt es einzelne Pfeiler, die in die Höhe ragen und oben in viele Rippen auseinandergehen, sodass es aussieht wie eine Palme, die ihre Palmwedel ausbreitet (z. B. im Refektorium des Klosters Maulbronn, in der Lübecker Marienkirche, in der St. Annenkapelle der Pfarrei St. Marien in Heiligenstadt. Besonders prächtige Gewölbe, die wie Fächer aussehen (Fächergewölbe), sieht man in England (z. B. in der Kings College Chapel in Cambridge).
Waren die Portale der romanischen Dome noch relativ schlicht, so wurden die gotischen Portale prachtvoll und reich mit Figuren ausgestaltet. Über dem Hauptportal sitzt meist Christus als König und Weltenherrscher (Majestas Domini) umgeben von den vier Evangelisten und unzähligen Heiligen zu beiden Seiten (sog. Gewändefiguren). Allein in Chartres, wo eine der ersten gotischen Kathedralen in Frankreich erbaut wurde (Baubeginn 1194), zählt man in und an der gesamten Kathedrale an die 10.000 gemalte bzw. gemeißelte Figuren, davon befinden sich alleine 2000 nur an den Portalen.
Gab es in der Romanik eher gedrungene und stumpfe Türme mit flächigen Sattel- und Pultdächern, so ragen die Türme der Gotik in die Höhe und werden sehr feingliedrig oftmals durch das sogenannte Maßwerk durchbrochen und mit der Kreuzblume auf der Spitze und Krabben an den Außenseiten besetzt (z. B. bei der Frauenkirche in Eßlingen, beim Freiburger Münster, bei den Domen von Köln und Regensburg, beim Wiener Stephansdom).
Waren im Inneren der Kirchen und Kathedralen die Altäre in der Romanik eher schlicht und blockartig, so wurden die Altäre der Gotik immer prächtiger und bekamen einen Aufbau an der Rückseite des Altares (Altarretabel). In der Hoch- und Spätgotik wurde daraus der Flügelaltar mit dem Altargesprenge. Der Flügelaltar bestand aus mehreren Tafeln mit Bildern aus dem Leben Christi oder der Heiligen und wurde je nach dem kirchlichen Festkreis geöffnet oder geschlossen. War das Thema des Hauptbildes in der Mitte des Altares Weihnachten, so wurde der Flügelaltar nur in der Weihnachtszeit geöffnet, sodass man das Hauptbild mit dem Weihnachtsgeschehen sehen konnte, ansonsten war der Flügelaltar geschlossen und zeigte mit den äußeren „Flügeln“ andere Darstellungen. Weltberühmt ist der Flügelaltar von Matthias Grünewald, der auch als „Isenheimer Altar“ (1514) bekannt ist. Er steht heute im Museum in Colmar im Elsass.
Das Altargesprenge ist meist ein äußerst feingliedriges Schnitzwerk aus vergoldetem Holz, dessen einzelne Skulpturen in den Farben Blau, Rot, Grün und Gold bemalt sind. Es stellt ebenfalls ein Geschehnis aus der Heilsgeschichte oder aus einem Heiligenleben da. In der Spätgotik reichte der Altaraufsatz mit dem Gesprenge bis an das Kirchengewölbe (vgl. den Pacher-Hochaltar in der Pfarrkirche St. Wolfgang am Wolfgangsee oder die Altäre von Tilmann Riemenschneider, wie den Heilig-Blut-Altar in Rothenburg ob der Tauber und den Marienaltar in der Herrgottskirche in Creglingen).
Wie bei allen Baustilen gibt es in den verschiedenen Ländern jeweils unterschiedliche Anfangs- und Endphasen des Stils. Während man in Frankreich bereits mit St. Denis (1137) „gotisch“ baute, baute man in Deutschland noch gut 100 Jahre romanisch. Als erste deutsche gotische Kirche kann – neben den Domen von Magdeburg (1220 Chor) und Bamberg (Westchor 1237) – die Elisabethenkirche in Marburg angesehen werden, deren Bau 1235 begonnen wurde. Aus dieser Zeit stammen auch die Dominikanerkirche in Frankfurt und die Franziskanerkirche in Würzburg.
Als Besonderheiten innerhalb der Gotik können der schlichte, einfache Stil der Zisterzienser („Zisterziensergotik“) sowie die in Norddeutschland und im Ostseeraum beheimatete „Backsteingotik“ angesehen werden. Ein Beispiel für die Backsteingotik in Süddeutschland ist der Münchner Frauendom.
Die Gotik breitete sich in ganz Europa schnell aus und wurde in allen Ländern Europas sehr gut aufgenommen – bis auf Italien, wo die Akzeptanz des „neuen Stils“ nicht sehr groß war. Der Architekt, Hofmaler und Kunsttheoretiker der Medicis in Florenz, Giorgio Vasari, prägte den Begriff gotico als Kunst der „Barbaren“, abgeleitet von der Bezeichnung des Germanenstammes der Goten. So hinterließ die Gotik in Italien nur im Norden ihre Spuren in Kirchen und Kathedralen, besonders zu nennen sind hier der Mailänder Dom und im Profanbau natürlich die herrlichen Palazzi in Venedig. In Rom selbst gibt es nur eine einzige original gotische Kirche, nämlich Santa Maria sopra Minerva mit dem Grab der hl. Katharina von Siena in der Nähe des Pantheons.